Ashes - Ruhelose Seelen (German Edition)
auch wenn sie so weit im Norden schon seit Wochen keine Menschenfresser mehr gesehen hatten. Chris und der alte Mann, den die Keule erschlagen hatte, waren in Fallen geraten, die davor schon gute zwei Monate unberührt geblieben waren.
Also muss ich ihn mitnehmen. Ellie kaute auf der Innenseite ihrer Wange. Sie ertappte sich dabei, dass sie starr auf seine Brust schaute, jeden mühsamen Atemzug registrierte und selbst die Luft anhielt, bis sich die Jutedecken wieder hoben. Schließlich konnte jeder Atemzug sein letzter sein. So wie im Film, ein letztes dramatisches Keuchen – und Schluss. Ich muss ihn irgendwie auf mein Pferd kriegen. Aber Chris war zu schwer für sie. Sie ließ den Blick über die frei liegenden Dachbalken schweifen, die schon im Schatten lagen. Selbst wenn sie ein Seil fand, es ihm um die Brust band und es irgendwie schaffte, das Seil über einen der Balken zu werfen, wäre sie nicht stark genug, um ihn auch nur fünf Zentimeter anzuheben. Ob sie ihn ziehen konnte? Das würde vielleicht gehen. Ihn von den Paletten herunterwälzen, dabei aufpassen, dass sein Kopf nicht auf dem Steinboden aufschlug, und ihn dann hinter sich her ziehen wie ein Kind auf seinem Schlitten am Rodelhang. Natürlich war Chris viel schwerer, aber sie musste ihn ja höchstens zehn Meter weit ziehen. Außerdem war sie jetzt viel kräftiger als im Oktober, als all diese schlimmen Sachen angefangen hatten. Sie konnte reiten, marschierte kilometerlange Strecken, schleppte Eisbohrer und Angelausrüstung, und mit der Savage kam sie inzwischen auch einigermaßen zurecht. Sie würde es schon schaffen. Aber ihn auf das Pferd zu hieven, das war ein ganz anderes Problem.
Und was war mit den Vögeln? Werden sie ihn in Ruhe lassen? Sie legte den Kopf schief und lauschte dem mechanischen Gekrächze. Sie waren nach wie vor da draußen. Zwar hatten sie ihr nichts getan, doch das hieß noch nichts. Die Vögel könnten ja – wer weiß? – eine Art Zeichen sein. Alex hatte mal gesagt, man könnte zum Beispiel erkennen, dass ein Sturm aufzieht, weil die Tiere ganz leise würden.
»Irgendwas muss ich tun«, sagte sie zu Mina, die sich an ihr Bein lehnte. Ellies eisige Finger vergruben sich im Fell hinter Minas Ohren. »Ich muss ihn nicht nur warm halten, sondern auch hier rausschaffen.«
Und wenn sie dablieb? Dann würden die anderen wahrscheinlich schon bald nach ihr suchen. Und sie auch rasch finden, denn Bella war ja an der Weggabelung angebunden. Ellie könnte also einfach hierbleiben und Chris warm halten. Allerdings würde sie möglicherweise lange warten müssen. In den nächsten ein oder eineinhalb Stunden würde sich noch niemand Sorgen um sie machen. Sie konnte Eli förmlich hören: Ach, ihr kennt doch Ellie, wenn sie erst mal beim Angeln ist, kann sie da ewig hocken bleiben.
Unter den Jutedecken stöhnte Chris auf. Ellie rannte hastig herbei, ließ sich neben ihm auf die Knie nieder und betrachtete sein Gesicht. Durch den Halbmond seiner Lider sah sie, wie sich seine Augen bewegten. Chris träumte, und zwar nichts Schönes. Tiefe Sorgenfalten zogen sich an seiner Nase entlang und über seine Stirn. Vielleicht ein Albtraum. Oder er träumte, er wäre tot, was vermutlich genauso schlimm war.
Ellie stand auf und klopfte auf die Palette. »Mina, komm.« Der Hund gehorchte und achtete darauf, nicht auf Chris zu treten. Erwartungsvoll sah Mina sie an, aber Ellie schüttelte den Kopf, legte die Hand in Minas Nacken und schob den Hund so nah wie möglich an Chris heran. »Nur du«, sagte sie und drückte noch ein bisschen fester, um dem Tier klarzumachen, was sie meinte. »Platz, Mina, leg dich hin. Du musst ihn wärmen.« Und beschützen, bis ich wiederkomme. Mina war zwar nicht so groß wie ein Schäferhund, aber wenn sie sich ganz ausstreckte, müsste ihre Körperwärme schon etwas bringen. »Bleib«, sagte Ellie und hob die Hand wie ein Verkehrspolizist. Mit einem leisen Jaulen reckte Mina den Hals und beschnüffelte Ellies Finger.
»Ich hab dich auch lieb«, sagte Ellie und drückte Mina einen Kuss auf den Kopf. Schon zum Gehen gewandt, hielt sie noch mal inne. Sie zog das Lederband aus ihrem Kragen und fuhr mit dem Finger die Linien des umgedrehten Peace-Zeichens nach. Zum Schutz, hatte Hannah gesagt. Ellie kniete sich hin und streifte Chris das Band vorsichtig über den Kopf. Er war ein Junge, fast ein Mann, und sein Hals war dicker als ihrer, deshalb lag das Lederband enger an, und das Amulett reichte nur bis zu der
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