Ashes - Ruhelose Seelen (German Edition)

ihre Hände war, legte sie das Messer beiseite, griff mit beiden Händen hinein und zog. Mit einem lauten Sssiiip riss der Jutesack entzwei.
    Ein würziger Duft strömte ihr entgegen. Auf Chris’ Brust lag der rote Zauberbeutel, nicht größer als ihre Faust, und bebte wie ein Herz, das sich erinnern wollte, wie man schlägt. Sein ganzer Körper war in ein weißes Laken gewickelt … nur, dass es nicht mehr wirklich weiß war. Über den Oberschenkeln, der Brust und der linken Seite waren kleine rote Flecken in Form winziger Spinnen auf dem Stoff entstanden.
    Frisches Blut. Er blutet … Gebannt starrte sie darauf, ihr Schock verwandelte sich in ehrfürchtiges Staunen. Wie kann er noch bluten?
    Und dann … hob sich die Brust.
    »Ah!« Sie quiekte wie eine Maus. Der Körper begann zu beben und zu zittern, als er gegen das Leintuch ankämpfte wie ein Schmetterling, der zu schwach war, um sich aus dem Kokon zu befreien. Ich muss ihm helfen, ich muss etwas tun!
    Aber Moment mal, musste sie wirklich? Es … er war am Leben oder wurde gerade wieder lebendig … und das war verrückt. Sie hatte zwar nie Die Mumie gesehen, aber nahmen schlimme Sachen nicht so ihren Anfang? Ein dummer Mensch stolpert in eine Höhle, ein Grab oder so, findet einen Steinsarg und denkt: Hey, vielleicht machen wir den einfach mal auf und gucken, was passiert.
    »Und dann wird der dumme Mensch getötet«, flüsterte sie. Oder die Mumie fraß seine Zunge und riss ihm die Augen raus oder so ähnlich. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte sie: Renn, renn schnell weg, hau einfach ab! Geh und schieb die Tür zu und verschließ das Totenhaus und steck die Finger in die Ohren – la-la-la-la, ich kann nichts hören – und tu so, als hättest du nie irgendwas gesehen. Kein Mensch würde es je erfahren. Klar, wenn sie im Frühling zurückkamen, um die Toten zu begraben, würden sie bemerken, dass der Jutesack total zerrissen war. Sie würden das Blut sehen. Aber Ellie brauchte ja nichts zuzugeben. Denn der springende Punkt war: Woher sollte sie wissen, ob nicht genau das mit manchen Kids passierte, wenn sie sich in Menschenfresser verwandelten? Nicht jeder veränderte sich auf die gleiche Weise. Also, was wenn? Was, wenn in dem Augenblick, in dem sie das Tuch aufschnitt, die Person – die vielleicht gar keine Person mehr war – sie schnappte und …
    Neben ihr stupste Mina sie an der Schulter an und winselte ungeduldig.
    Hör auf Mina, sagte die Stimme in ihrem Hinterstübchen. Sie wüsste, wenn hier was faul wäre. Komm schon, du musst etwas tun, Ellie, und zwar schnell, sonst stirbt er.
    »Aber er ist doch schon tot«, sagte sie kleinlaut, so wie man im Unterricht eine Frage beantwortet, sich dabei aber nicht ganz sicher ist. Außer, wenn er es vielleicht wirklich nicht ist. Es könnte irgendein Irrtum gewesen sein. Hannah weiß auch nicht alles. Und das beruhigte sie so weit, dass ihre Gedanken nicht mehr unstet herumschlitterten . Mina weiß, dass alles in Ordnung ist. Sie will, dass ich helfe. Mina weiß so was immer.
    Ach, was soll’s. Während sie ihre Angst hinunterschluckte, legte sie die Hände auf die Wölbung seines Kopfs. Wenn sie hier einschnitt, würde sie ihn aller Wahrscheinlichkeit nach am wenigsten verletzen. Ihn am wenigsten verletzen? Sie hob ein Stück Leintuch an und ritzte mit dem Messer einen waagrechten Schlitz hinein. Er ist tot, oder zumindest war er tot  …
    Jetzt konnte sie ihn hören: ein leises gedämpftes Stöhnen, das nicht aufhören wollte. Durch den Schlitz sah Ellie schwarzes Haar und dann die glatte Fläche seiner Stirn. Sie schob ihre Finger hinein, zog fest am Leintuch und ächzte, als der Baumwollstoff erst standhielt, dann aber doch nachgab. Nun wurde sein Gesicht sichtbar. Seine Haut war sehr weiß, fast wie eine Larve. Blaugraue Ringe umrahmten die geschlossenen Augen. Seine Lippen waren dunkelblau, wie tote Würmer nach einem Platzregen. Aus seinem offenen Mund hörte sie ein Keuchen, er kämpfte gegen das Leintuch an, die Adern an seinem Hals waren angeschwollen.
    »Chris! Chris!« Sie heulte auf, riss das Tuch auseinander, schluchzte und schrie seinen Namen. Er war nackt, aber ihr Verstand registrierte das nur am Rande, wie das Aufblitzen von etwas am Straßenrand, wenn man sehr schnell mit dem Auto vorbeifährt. Sein Brustkorb hob sich, um Luft einzusaugen. Sie sah sogar, wie sich die Haut zwischen den Rippen spannte.
    Aber was ihre Aufmerksamkeit wirklich fesselte, was sie mit einem kleinen