Ashes - Ruhelose Seelen (German Edition)
aber dass Hass einen nicht weiterbringe. Sie kann schließlich zubeißen.
»Soll das ein Witz sein?«, krächzte sie und dachte: Das ist doch wohl bescheuert. Aber die Hinterstübchen-Stimme hatte nicht ganz unrecht. Sollte sie ihr Gewehr holen?
Lass Chris nicht allein. Sie war sich nicht sicher, ob sie das selbst dachte oder ob es wieder aus dem Hinterstübchen kam, aber sie wusste, dass es das Richtige war. Einfach kühlen Kopf bewahren, ruhig bleiben wie Alex und Tom. Nur mit allergrößter Selbstbeherrschung schaffte sie es, sich umzudrehen. Denn sie konnte Chris nicht auf den Bauch drehen und auf den Sattel schieben und gleichzeitig dieses Mädchen im Auge behalten. »Lass sie nicht an mich ran, Mina«, sagte Ellie mit piepsender, ängstlicher Stimme. Dann beugte sie sich vor, legte beide Hände an Chris’ Seite und versuchte, ihn umzudrehen. Doch es war ein kläglicher Versuch, ihre Kraft schien sich zusammen mit ihrer Stimme verflüchtigt zu haben. Chris war echt schwer, und sie war so ein Zwerg. Komm schon, stell dich nicht so an. Sie brauchte noch zwei weitere Anläufe, bis sie Chris endlich auf den Bauch gewälzt hatte. Dabei verrutschten die Jutesäcke und gaben einen weißen Oberschenkel und einen Teil seines Hinterns frei.
»Ooh-kaaay«, trällerte sie und dachte, dass sie aus dieser Perspektive noch nie so viel von einem Jungen gesehen hatte. Sie stopfte die Säcke wieder an ihren Platz, so gut es ging. »O Alex, o Alex, o T-Tom …« Die Hacken in den Boden gestemmt, packte sie wieder die Sackenden und zerrte Chris den ganzen Weg bis zum seitlichen Rand der Rampe, so weit, dass seine Hände an der Kante herabbaumelten. Dann sprang sie hinunter, wappnete sich bereits für die schnellen Schlurfgeräusche im Schnee, wenn das Mädchen zum Angriff überging, und schwang sich auf Bellas Rücken. Den linken Fuß schob sie in den Steigbügel und stemmte sich mit der rechten Ferse gegen die Rampe. Da schnaubte das Pferd und begann seitlich wegzutänzeln.
»Nein, nein, lass das.« Ellie zog am rechten Zügel, um den Kopf der Stute zu drehen. Dann packte sie Chris an den Oberarmen und zog ihn mit aller Macht zu sich herüber. »Daddy, hilf mir«, sagte sie, als Chris’ Kopf über den Sattel ragte. »O Daddy, Daddy, Daddy.« Sie ließ nicht locker und hielt mit dem Stiefel das Pferd ruhig, während sie versuchte, Chris auf den Sattel zu bugsieren. Unbeholfen zerrte sie an ihm, bis er endlich vornüber kippte und auf Bellas Schultern und Widerrist zu liegen kam wie eine überlange Decke.
Das musste genügen. Einen flüchtigen Moment dachte sie an die Savage, die noch im Totenhaus lag, und überlegte, ob sie die Schiebetür schließen sollte. Hannah wäre stocksauer, wenn dieses Mädchen mit seinen Freunden dort hineingelangte und sich einen Imbiss genehmigte. Egal. Ich muss Chris hier wegbringen. Ellie atmete tief durch und zog leicht am Zügel, damit Bella sich drehte. Chris’ Körper wackelte auf dem Sattel ein wenig hin und her, verrutschte aber nicht. Und das Mädchen stand noch immer am selben Fleck, hatte keinen Schritt zu ihr hin oder von ihr weg gemacht.
»Los geht’s, Mina.« Mit zitternden Fingern löste Ellie den Knoten des Schals, ließ ihn aber noch auf Bellas Kopf liegen. Die Zügel in der linken Hand beugte sie sich über Chris und presste die Ellbogen an seine rechte Seite, um ihm Halt zu geben. Dann riss sie mit einer plötzlichen Drehung aus dem Handgelenk den Schal weg.
»Mina!« Im selben Moment trat sie dem Pferd, das sich schon aufbäumen wollte, energisch in die Flanken. »Los, Mina! Komm!«
Zähne fletschend jagte der Hund die Rampe hinunter, während Bella mit halsbrecherischer Wucht die Vorderhufe auf den Boden knallte und losstürmte. Ellie japste, als sie mit einem Plumpser wieder auf dem Sattel landete. Chris’ Körper geriet ins Rutschen. Nein, nein, nein! Sie drückte ihre Ellbogen so fest gegen ihn, dass sie seine Rippen spüren konnte. Hiergeblieben!
Vor sich sah Ellie das Mädchen, dessen Gesichtsausdruck sich jäh veränderte. Ihr leerer Hungerblick wich schlagartig Erstaunen und Angst. Das strähnige Haar und der lindgrüne Schal flatterten, als sie beiseite sprang, um nicht unter Bellas Hufe zu geraten. Und dann preschten sie den Weg entlang, Bella galoppierte durch den Schnee, gefolgt von Mina, und die Bäume am Rand verschwammen zu einem unscharfen Schemen.
Nur einmal warf Ellie einen flüchtigen Blick zurück. Die Menschenfresserin rannte ihnen nicht hinterher
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