Ashes - Ruhelose Seelen (German Edition)

hatte Kincaid ausgeliefert, seinen Freund, damit diese Missgeburt von Aidan ihr teuflisches Werk an ihm verrichten konnte, und Kincaid hatte geschrien und geschrien und sich geopfert, um für Chris einen Vorsprung herauszuschinden. Und wozu das alles? Wenn Chris nicht erfroren war, hatten ihn sich die Chuckies geschnappt. Ebenso Nathan, und dieses Mädchen, Lena.
    Und jetzt Tom, der sich vor meinen Augen selbst zerstört, das geht genauso auf mein Konto.
    »Also?« Aus seinen Gedanken gerissen, begegnete er dem unverwandten Blick aus Mellies grauen Augen. »Hast du ihn im Griff?«, fragte sie.
    »Ja, ja«, antwortete er, war sich dessen aber selbst nicht ganz sicher, was ihm noch weniger behagte. Er drehte sich zu der Kiste um und kramte nach Zucker. »Das Letzte, was wir brauchen können, ist ein Märtyrer.«
    Da er Mellie den Rücken zukehrte, bemerkte er ihre Reaktion darauf nicht.
    Was er noch bereuen sollte.

37
    »Wenn du keine bessere Idee hast, spricht doch nichts dagegen, dass wir ihn noch eine Weile einsperren. Schließlich ist er weder ein Geist noch ein Zombie oder ein Lazarus.« Jayden fuhr sich mit der Hand durch die hellbraunen Wuschelhaare. »Die Hunde haben ihn akzeptiert, also steht fest, dass er sich nicht verändert. Du brauchst mal eine Atempause, Hannah. Dass der Junge noch lebt, ist ebenso wenig ein Wunder, wie Ellie eine Superheldin ist.«
    »Sie hat einen Jungen transportiert, der doppelt so schwer ist wie sie.« Hannah nippte an ihrem heißem Anistee, genoss das zarte Lakritzaroma auf ihrer Zunge. Dass der Tee eine knappe halbe Stunde nach dem Aufgießen noch heiß war, erschien ihr fast genauso wunderbar wie sein Geschmack. In diesem Zimmer im ersten Stock war es dank eines eigenen Holzofens kuschelig warm; überdies war es geräumig und hatte eine eigene Sitzecke. Es war der einzige Raum, der sich von außen abschließen ließ, ungewöhnlich in einem Amish-Haus. Manchmal fragte sich Hannah, ob die Vorbesitzer etwa einen geisteskranken Angehörigen hier hinter Schloss und Riegel gehalten hatten, so wie Mr Rochester die verrückte Bertha in Jane Eyre .
    Wenn wir Ellie nur davon abhalten könnten, draußen auf dem Gang ihr Lager aufzuschlagen. Da Ellie Chris nicht aus den Augen lassen wollte, hatte sie im Krankenzimmer übernachten wollen. Gott sei Dank war Eli eingeschritten: Ellie, er ist kein Haustier.
    »Und du weißt, wie es am Totenhaus aussieht«, fuhr sie fort. »Sie konnte Chris doch unmöglich bis zur Rampe schaffen, geschweige denn auf den Sattel hieven. Dafür hat sie einfach nicht die Kraft.«
    »Deshalb ist es noch kein Wunder. In Notfällen kann ein Adrenalinausstoß zu einer stärkeren Durchblutung der Muskeln und damit zu mehr Kraft führen. Du kennst die biologischen Fakten genauso gut wie ich.«
    »Klar, aber Biologie erklärt nicht alles. Was ist zum Beispiel mit den Krähen? Raben und Krähen und Spatzen sind Psychopompoi.« Sie hatte aus ihrer Sammlung im Erdgeschoss ein paar Bücher hochgeholt und tippte jetzt auf einen Text aus einem Uni-Seminar: Enzyklopädie der Mythen, der Magie und des Mystizismus. »Psychopompoi oder Seelengeleiter helfen der Seele auf dem Weg ins Jenseits.«
    »Und bringen den Neugeborenen eine Seele.« Jayden zuckte die Schultern. »Ich habe den Eintrag auch gelesen. Engel erfüllen dieselbe Aufgabe. Du meinst also, dass Krähen die Seele des Jungen wieder zurückgebracht haben?«
    Oder sie wurden dorthin gerufen, um sie wegzubringen. Hannah starrte in ihre Tasse. »Ich weiß nicht, was ich meine. Da sind nur zu viele Fragen, auf die ich keine Antwort weiß.«
    »Was aber, ich wiederhole mich, nicht bedeutet, dass wir es hier mit einem Wunder zu tun haben.« Jayden sah sie von der Seite an. »Ich weiß, dass Isaac und du mit Zaubersprüchen arbeitet, aber daran glaubst du doch nicht ernsthaft, oder? Schließlich hast du studiert.«
    Ach, sie hätte ihm da ein paar Geschichten erzählen können. Die Zauber- und Segensbräuche der Amish und ihre Volksmagiewaren gar nichts im Vergleich zu den seltsamen Ritualen von Jugendlichen am College, die sich der Wicca-Bewegung angeschlossen hatten. »Aber jeder Analogiezauber beruht auch auf Fakten. Das Gehirn ist so vernetzt, dass es das Mystische sucht, deshalb …«
    »Nur weil wir so veranlagt sind, dass wir glauben wollen, muss es noch nicht wahr sein.«
    Sie hätte leicht darauf verweisen können, dass der Glaube oder außerkörperliche Erfahrungen einen evolutionären Vorteil darstellten. Die Sprache