Ashes - Ruhelose Seelen (German Edition)
der Wissenschaft hätte Jayden verstanden. Er fand sich mittlerweile damit ab, wenn Isaac und Hannah Hexenzeichen, Brauche-Beutel und Zaubersprüche benutzten, weil es ja nichts schadete. Außerdem war sie Botanikerin und Isaacs Lehrling und hatte genug Ahnung von Physiologie und Biologie, um zu wissen, welche Volksheilmittel tatsächlich helfen könnten.
»Okay, meinetwegen. Es ist also keine Zauberei«, sagte sie. »Hast du eine Theorie?«
»Ich habe ein paar Ideen. Ich glaube, er …« Jayden wies mit dem Kopf auf das Bett und den Jungen unter den Daunendecken, »hat einfach nur ein Mordsglück gehabt. Es gibt einen logischen Grund dafür, warum er überlebt hat. Wir kennen ihn bloß nicht. Aber das heißt nicht, dass man es nicht wissenschaftlich erklären könnte. Das wäre so, als würde man sagen, Thor macht den Donner mit seinem Hammer. Ein viel größeres Problem ist, was wir tun, wenn er zu sich kommt.«
»Wenn es überhaupt dazu kommt.« Zwar hatte Chris im Lauf der letzten Stunde ein bisschen Farbe bekommen, die Haut unter seinen Fingernägeln, sein Zahnfleisch und seine Lippen waren besser durchblutet, aber er machte keine Anstalten aufzuwachen. Wenn er denn tatsächlich schlief. Hannah wusste es ehrlich nicht. In der Stille erschienen ihr seine abgehackten Atemzüge ziemlich laut, was aber normal war, wenn man träumte. Das kratzende Keuchen, das Ellie gehört hatte, war aber vielleicht gar kein richtiges Atmen gewesen, kein Luftholen im eigentlichen Sinne. Menschen, die am Rande des Todes standen – oder kurz davor waren, in ein tiefes Koma zu fallen – keuchten ebenfalls.
Nur dass ich das schon mal erlebt habe; ich habe dem Jungen angehört, dass er im Sterben lag, und jetzt ist er ins Leben zurückgekehrt …
»Wenn es dazu kommt?« Jayden runzelte die Stirn. »Aber du hast doch gesagt, dass er träumt.«
»Das glaube ich, aber das geht ja jetzt schon seit Stunden so. Ellie sagt, er sei bereits im Totenhaus in der REM -Phase gewesen.« Bei der Untersuchung war ihr klar geworden, dass Chris sich weder im Koma noch in einem Zustand der Bewusstlosigkeit befand, wie es in ihren Fachbüchern beschrieben war. Im Grunde lag er im tiefen Schlaf der träumenden Toten, aus dem er nicht geweckt werden konnte oder wollte. Dabei hatte sie es mit allen Mitteln versucht: Sie hatte ihm mit ihrer kleinen Stiftlampe in die Augen geleuchtet, ihn mit einer Nadel gestochen, ihn angeschrien, eiskaltes Wasser in seine Ohren gespritzt. Keine Reaktion. »Der REM -Schlaf dürfte nicht so lange dauern.«
»Aber du hast gesagt, es gibt Leute, die ständig in die REM -Phase fallen.«
»Ja, das sind Patienten mit Schlafkrankheit. Damit ist es am ehesten vergleichbar.« Sie legte die Hand auf das oberste Buch auf ihrem Stapel. Lehrbuch der klinischen Neurologie, zehnte Auflage. Der solide Prägedruck unter ihren Fingern wirkte beruhigend. »Es ist keine Krankheit, keine echte Neurolepsie. Es ist eine Störung, wie Diabetes, bei der die Leute von Einschlafattacken überwältigt werden.«
»Aber du hast gesagt, die Neuroleptiker hätten ganz lebhafte Halluzinationen.«
»Hypnagogische Halluzinationen, genau. Das sind aber keine echten Träume.« Mit Daumen und Zeigefinger deutete sie einen winzigen Abstand an. »Sie ereignen sich in einem so schmalen Fenster zwischen Träumen und Wachen.«
»Woher willst du dann wissen, dass er nicht auf einem völlig abgefahrenen Trip ist? War der Pilz nicht ursprünglich dafür gedacht?« Jayden deutete auf ein handbesticktes ledernes Tagebuch. »Nicht um zu töten, sondern um beim Träumen zu helfen?«
»Nach dem Originalrezept, ja. Die Enzyklopädie sagt, die Chippewah tranken den Absud, damit die Seele ihren Weg zum Land der Geister fand.«
»Mittels Visionen, stimmt’s? Seltsame Träume? Als wären sie auf einem irren Trip?«
»Ja, aber in geringen Dosen. In einer höheren Dosis bringt es dich um«, sagte Hannah, inzwischen etwas ungeduldig. Was ein Rezept für halluzinogene Pilze in einem handschriftlichen Tagebuch mit Brauche-Sprüchen und Volksmagie der Amish verloren hatte, wusste sie nicht. Und Isaac auch nicht. Beide vermuteten, dass die ursprünglichen Amish-Siedler lokales Brauchtum aufgegriffen hatten. Aber warum ein Absud ausgerechnet aus diesem Pilz? Die alten Bräuche drehten sich zwar in der Regel um Volksheilkunde und weiße Magie – die meist von den Pennsylvania-Deutschen angewendet wurden –, doch die Amish waren nicht auf Ekstaseerlebnisse aus. Wenn sie
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