Ashford Park
sie ein wenig aufzumuntern. Das Gesicht Tante Veras, der bösen Hexe ihrer Kindheit, die sie mit einem Blick hatte vernichten können, war gezeichnet von Falten, die sich allzu tief in ihre Wangen eingegraben hatten, und von dunklen Schatten, die wie die Nacht um ihre Augen lagen.
Über den Grund dafür sprachen sie nie, genau wie sie nie darüber sprachen, dass Onkel Charles Tag für Tag Stunden in seinem Büro zubrachte, oft bis in die tiefe Nacht hinein, und immer mehr verfiel, so durchsichtig wurde wie ein Blatt Papier. Sie schafften es meisterlich, weiterzumachen, als wäre nichts gewesen, den Schein zu wahren, aber Addie kannte die Wahrheit. Die Farbe von Tante Veras Kleid verriet sie ihr, der leere Fleck an der Wand, wo einmal ein Porträt gehangen hatte, die Lücken in der Kollektion silbergerahmter Fotografien auf dem Boule-Tisch neben der Tür.
Da waren Bea – in Tante Veras pompösem Spitzenschleier über dem dürftigen Nachkriegsbrautkleid – und Marcus an ihrem Hochzeitstag, Seite an Seite mit einer hochbefriedigt dreinschauenden Tante Vera. Dodo und ihr Mann in Melton, Dodo, die mit strahlendem Lachen in den Zügeln eines riesigen Pferdes hing; und Edward, der in seiner Uniform so stand, dass man den leeren Ärmel auf seiner linken Seite nicht sehen konnte. Da waren Aufnahmen von Freunden und Verwandten, den Sprösslingen alter Adelshäuser, je enger die königlichen Verbindungen, desto besser.
Von Poppy waren keine Bilder da.
Addie hätte die Stellen abstecken können, wo sie einmal gestanden hatten: Poppy steif und feierlich in ihrem besten Taftkleid; Poppy bei der Schmetterlingsjagd; Poppy mit einem Tennisschläger in der Hand, fast fünfzehn inzwischen und sprühend vor Leben. Das Familienfoto von Beas Hochzeit, mit Bea und Marcus in der Mitte, Onkel Charles und Tante Vera auf der einen Seite und Edward auf der anderen, hatte einen Knick, wo das Papier umgeschlagen worden war. Als wäre Poppy nicht dabei gewesen.
Doch sie war dabei gewesen. Addie erinnerte sich noch an die flehentlichen Bitten des Fotografen,
bitte, hierher sehen, Lady Penelope, nur einen Augenblick
, während Poppy über ihre Schulter hinweg Bea zulachte oder ihren Hut festhielt, damit der Wind ihn nicht forttrug, oder eine Hand in die Höhe streckte, um einen imaginären Regentropfen aufzufangen, niemals still, immer in Bewegung.
Es schien unmöglich, sie sich für immer still vorzustellen, zu denken, dass sie nie wieder mit einem ‹Hallo, Addie!› die Treppe hinunterjagen, nie wieder Bea quengelnd zu einer Partie Tennis drängen oder Edward zu einem Ausritt überreden würde.
Es geschah gut einen Monat nach Beas Hochzeit, während Bea und Marcus noch in den Flitterwochen waren. Poppy klagte, als sie von einem Gang ins Dorf zurückkehrte, über Hals- und Kopfschmerzen. Nanny, die alte Nanny, packte sie ins Bett, flößte ihr Zitrone mit Honig ein und meinte, sie solle sich gründlich ausschlafen. Doch am Morgen war Poppys Temperatur gestiegen, und am Abend wussten sie es: Es war die Influenza.
Addie konnte sich noch an den Geruch des Krankenzimmers erinnern: Gerstenwasser und Essig und der aufdringliche Duft der Lavendelduftkissen, die Nanny im Zimmer verteilte, um die anderen Gerüche zu vertreiben. Als sie während des Krieges als Krankenschwester im Guy’s Hospital gearbeitet hatte, hatte sie Schlimmes gesehen, aber dies hier war viel schlimmer, weil es um Poppy ging und weil sie nichts, aber auch gar nichts tun konnte, um sie zu retten. Die Influenza hatte das ganze Dorf getroffen. Die Postbeamtin starb, der Sohn des Metzgers und viele andere, von denen manche mit dem Gut verbunden waren, andere nicht. Zu ihnen kamen die Ärzte nicht, aber sie kamen zu Poppy, und ihr Urteil war einstimmig: Alles, was man tun konnte, war getan worden. Die Krankheit nahm ihren Lauf.
Sie nahm ihnen Poppy.
Deshalb war Addie bereit, sich Tante Veras Spott und Geringschätzung gefallen zu lassen. Sie war sicher einsam, auch wenn sie das niemals zugeben würde. Sie hatte keine Tochter mehr, deren Zukunft sie planen und lenken konnte. Bea und Dodo waren verheiratet, nicht mehr unter ihrer Obhut. Und Poppy war tot.
Manchmal fragte sich Addie trotz des Urteils der Ärzte, was passiert wäre, wenn sie nur ein klein wenig früher erkannt hätte, dass Poppys Halsschmerzen mehr als eine Erkältung waren. Wenn sie sich Poppy an jenem ersten Abend genau angesehen hätte, anstatt sie Nanny zu überlassen. Wenn sie etwas, irgendetwas anders
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