Ashford Park
Lächeln. Das, hatte Fernie erklärt, habe sie von ihrem Vater.
Addie dachte an das Geheimnis, das sie fest verschlossen in sich trug, während sie ihre Handschuhe überzog. Fernie! Nach all diesen Jahren hatte sie Fernie wiedergesehen. Sie war älter, trauriger, aber immer noch Fernie. Ihr rotes Haar war von Grau durchzogen, und sie trug es jetzt nicht mehr in üppiger Fülle hochgesteckt, sondern zu einem modischen Bubikopf geschnitten, der sie jünger und zugleich älter wirken ließ.
Addie hatte sie in ihrem kleinen Büro in einem baufälligen Haus in Bloomsbury besucht, nicht allzu weit von der Gegend entfernt, wo Addie aufgewachsen war. Eine traurige Topfpflanze stand auf dem Fensterbrett, eine Schreibmaschine auf dem Pult. Männer ohne Krawatten rannten mit Papieren hin und her, auf denen die Druckerschwärze noch feucht war. Ihre zerknitterten Jacketts, die so gar nicht in die heiligen Hallen von Ashford Park gepasst hätten, rochen nach kaltem Zigarettenrauch.
Das Mädchen – früher wäre es ein Diener gewesen, aber mit dem Krieg hatte sich vieles geändert – öffnete ihr die Tür. Addie trat in den feurigen Glanz der untergehenden Sonne hinaus, geblendet von diesem letzten Aufflammen des Lichts.
Sie verspürte ein ungeheures Glücksgefühl. Herrlich, Tante Vera wieder eine Woche los zu sein. Auf jüngere Söhne oder ernsthafte junge Geistliche konnte sie verzichten. Sie hatte ihre eigenen Pläne. Ja. Tante Vera würde entsetzt sein, aber sie brauchte Tante Veras Erlaubnis nicht. In zwei Monaten wurde sie einundzwanzig, und dann …
«Hoppla!» Von der Sonne geblendet, war sie einem Entgegenkommenden direkt in den Weg gelaufen. Ihre Schulter prallte gegen einen Arm, und ein Päckchen fiel zu Boden. Sie konnte es dumpf aufschlagen hören.
«Ach, du lieber Gott, entschuldigen Sie vielmals.» Addie schützte mit erhobener Hand ihre Augen, konnte aber gegen das grelle Licht nur den schattenhaften Umriss eines Mannes erkennen.
«Machen Sie sich keine Gedanken sagte er und bückte sich, um das heruntergefallene Päckchen aufzuheben. Sein Gesicht unter der Krempe seines grauen Homburgs konnte sie nicht sehen. «Ich habe mindestens genauso viel Schuld.»
Was sehr großmütig von ihm war, da Addie mit Sicherheit wusste, dass es nicht zutraf. Sie beugte sich ein wenig vor. «Ich hoffe, in dem Päckchen ist nichts Zerbrechliches.»
«Nur ein Buch.» Er richtete sich auf, sodass sie zum ersten Mal nicht nur den Hut sah, sondern auch sein Gesicht.
Einen Moment lang glaubte sie, ihre Augen, vor denen immer noch Regenbogen flirrten, täuschten sie. Etwas anderes schien ausgeschlossen zu sein.
«Mr. Desborough?», rief sie atemlos, und er hob sichtlich überrascht mit einer scharfen Bewegung den Kopf. Kein Wunder, sie war ja genauso überrascht, überrascht und schwindlig vor Glück. Sie schlug die Hände ineinander. «Aber jetzt muss ich wohl Captain Desborough sagen?»
Sein Blick war fragend, voll gespannter Aufmerksamkeit auf ihr von der Sonne beschienenes Gesicht gerichtet. Addie hätte gern gewusst, was er sah. Eine von schillerndem Licht umflossene Gestalt oder nur ein ausgebleichtes Phantom?
«Kenne ich …?», begann er und hielt inne. Sein Gesicht entspannte sich, und er lachte laut. «Du meine Güte! Es ist das Mädchen mit der Maus.»
Kapitel 9
London, 1920
I m Augenblick habe ich keine», sagte Addie. Sie bot ihm die Hand. «Adeline Gillecote.»
«Jetzt erinnere ich mich», sagte Captain Desborough. «Sie haben wirklich ein Talent für dramatische Auftritte.»
«Im Allgemeinen laufe ich eigentlich nicht herum und stoße andere Leute um», entgegnete sie leicht betroffen. «Wirklich nicht.»
«Sie lassen nur Tiere auf sie los, hm?», meinte er und fragte dann: «In welche Richtung müssen Sie denn?»
«Da entlang.» Sie zeigte zerstreut die Straße hinunter, wusste kaum, was sie sagte, so unwirklich schien ihr die Begegnung. Sie konnte nicht glauben, dass sie wirklich mit Frederick Desborough sprach, dass er leibhaftig vor ihr stand und sie anlächelte. «Ich wohne jetzt bei meiner Cousine in Wilton Crescent.»
«Ich gehe auch in die Richtung», sagte er. «Darf ich Sie begleiten?»
Sie hatte wohl genickt oder sonst wie ihre Zustimmung gezeigt, denn auf einmal ging sie neben ihm her zwischen Reihen weißer Häuser mit schmiedeeisernen Gittern hindurch. Die Sonne funkelte auf dem Straßenpflaster, und die Geräusche von Automobilen und Pferdewagen verebbten zu dumpfem Dröhnen, so
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