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Ashford Park

Ashford Park

Titel: Ashford Park Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Willig
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gemacht hätte. Die Ärzte meinten, das hätte nichts geholfen. Sie verwiesen auf statistische Zahlen: so und so viele Tote im Monat, so und so viele andere Töchter, Schwestern, Cousinen, die der Krankheit zum Opfer gefallen waren. Aber diese Mädchen waren nicht Poppy. Sie waren nicht Addies Pflege anvertraut gewesen.
    «Eine ganze Saison und nichts», sagte Tante Vera verdrießlich und musterte Addie von oben bis unten. «Was sollen wir denn noch mit dir machen? Dir fehlt natürlich ein Vermögen …»
    Addie kannte das alles. Es war ein altes Lied. Von Onkel Charles bekam sie eine feste Summe für ihren Unterhalt. Sie wusste allerdings nicht, wie viel davon Onkel Charles aus eigener Tasche bezahlte. Vielleicht stammte ein Teil aus dem kleinen Erbe, das ihre Eltern ihr hinterlassen hatten. Sie hatte Angst, danach zu fragen.
    «Ich habe daran gedacht …», begann Addie zaghaft. «Ich dachte daran, mir eine Anstellung zu suchen.»
    Das Wort hörte sich seltsam an in Tante Veras Salon, irgendwie unpassend inmitten von all dem Rosé und Gold, neben dem zart schimmernden Porzellan.
    Tante Veras Korsett ächzte. «Eine Anstellung? Flausen. Nichts als moderne Flausen», sagte sie. Dann wie zu sich selbst: «Ein jüngerer Sohn … oder ein Geistlicher vielleicht. Das wäre das Richtige …»
    Auf dem Kaminsims schlug eine Uhr aus Gold und Malachit die Stunde: fünf helle Töne.
    Addie atmete auf.
    «Fünf Uhr schon?» Tante Vera stand mühsam aus ihrem Sessel auf. «Sag Beatrice, dass ich sie am Dienstag erwarte.»
    «Ja, Tante Vera.» Addie stellte ihren Teller auf das Tablett. Die unberührten Butterbrötchen, die auf einem kostbaren Spode-Teller mit Blumen und Goldrand vor sich hin welkten, hatten etwas schrecklich Verlorenes.
    «Adeline?» Addie stand kerzengerade, als Tante Vera sich an der Tür umdrehte. «Von diesem Unfug über eine ‹Anstellung› möchte ich nichts mehr hören. Denk gefälligst daran, wer du bist.»
    Wer sie war? Jahrelang hatte man es ihr eingebläut. Sie war eine Gillecote, selbst wenn – es gab immer ein ‹selbst wenn› – sie nicht so aussah. Wenn Bea die halbe Nacht ausblieb oder Tante Vera sich Zuckerguss von den Fingern leckte oder Dodo bei Tisch über Pferdezucht redete, so war das völlig in Ordnung. Sie brauchten ja auch nicht die Schande eines vom Weg abgekommenen Vaters und einer Mutter, die nur aus der Mittelschicht stammte, wiedergutzumachen. Von Addie hingegen, das hatte man ihr immer wieder gesagt, wurde erwartet, dass sie sich doppelt korrekt benahm, sich doppelt so sehr bemühte, ihre unglückselige Herkunft vergessen zu machen. Die anderen waren von Rechts wegen Gillecotes, während sie sich dieses Recht erst erwerben musste.
    Und wenn sie es nun gar nicht haben wollte? Ein rebellischer Funke sprang in ihr auf, als sie unter den versammelten Porträts der Gillecotes durch die herrschaftliche Halle ging. Von beiden Seiten der imposanten Doppeltreppe blickten sie zu ihr hinunter, hellhäutig und blond wie Bea und Dodo und Onkel Charles. Gillecotes aus allen Epochen, vom Zeitalter Jakobs I. bis zur Regency-Zeit.
    Addie hatte keine Bilder von ihrer Mutter bis auf die verschwommenen Vorstellungen ihrer Phantasie, mehr Tagträume als Erinnerungen. Zu den Verwandten ihrer Mutter hatte sie in all den Jahren keinen Kontakt gehabt. Sie wusste lediglich, dass der Vater ihrer Mutter Landarzt gewesen war. Das hatte sie erst im Krieg von Tante Vera erfahren, als sie ihr eröffnet hatte, sich im Guy’s Hospital als Krankenschwester ausbilden zu lassen. Tante Vera hatte darin einen Beweis gesehen, dass Herkunft sich nicht verleugnen ließ. Dass die Tochter der Herzogin von Rutland ebenfalls als Pflegerin im Guy’s Hospital arbeitete, hatte sie allerdings etwas milder gestimmt.
    In den vergangenen vierzehn Jahren hatte Tante Vera getan, was sie konnte, um Addie von jeder Spur ihres mütterlichen Erbes zu läutern und eine reine Gillecote aus ihr zu machen, frei von jeglicher minderwertigen Beimischung. Sie war froh gewesen, zu Bea entfliehen zu können, wo man nicht zu fürchten brauchte, wegen seiner Kleidung, seiner Eigenarten, seiner Gewohnheiten gemaßregelt und auf Schritt und Tritt kritisch beobachtet zu werden.
    Ein Mädchen reichte Addie ihre Sachen, und sie blieb vor dem Spiegel stehen, um sich sanft ihren Hut auf die Haare zu drücken, die eine Nuance heller waren als die Holztäfelung in der Halle. Fernie hatte ihr gesagt, sie käme nach ihrer Mutter, bis auf das

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