Assassino
Tür auf. Die Fächer der Vitrine waren mit allerlei alten Schmuckstücken gefüllt, die sicher einen beträchtlichen Wert besaßen. Mitten zwischen ihnen lag ein dickes Bündel Banknoten.
Buluts Augen weiteten sich, als er das Geld sah. Mit einer Geschicklichkeit, die ihm Kati nicht zugetraut hätte, bahnte er sich seinen Weg zur Vitrine, langte nach dem Geld und blätterte es rasch durch. Es waren ausschließlich 20 0-Euro -Scheine. Kati schätzte den Betrag auf mindestens zehntausend Euro, wenn nicht mehr.
Bulut zerlegte das Bündel in zwei etwa gleich große Teileund stopfte sie in die Taschen seines ausgebeulten Jacketts. Dann erst schien er seine Retter wirklich zu bemerken.
»Es sieht so aus, als kommen Sie zu spät«, erklärte er mit einem bedauernden Achselzucken und klopfte auf seine Jackentaschen. »Das ist alles, was von Ihrer Fibelscheibe übrig geblieben ist.«
»Wer hat das getan? Wer war das?«, fragte Kati resigniert. Sie wollte schreien, heulen, gegen etwas treten, aber ihr Körper war wie gelähmt. Warum waren sie gestern nicht direkt hierher gefahren? Wieso hatten sie eine ganze Nacht gewartet?
Bulut geleitete seine Besucher zurück in den Wohnraum, wo sie an einem runden Holztisch Platz nahmen, auf dem eine weiße Spitzendecke lag. Kati sank auf dem Stuhl zusammen und überließ Chris und Mustafa das Gespräch.
Der Alte bot ihnen Tee an, aber sie lehnten ab. Er setzte sich zu ihnen.
»Gestern Abend hat ein junger Mann hier geklingelt«, begann er. »Es war schon spät, aber in meinem Alter verliert die Nacht ihre Bedeutung. Ich schlafe dann, wenn ich müde bin, und das ist genauso oft am Tag wie in der Nacht.«
Seine Hände tasteten nach seinen Taschen, um sich zu vergewissern, ob sich das Geld darin nicht plötzlich wieder in Luft aufgelöst hatte. »Er war sehr freundlich und erklärte mir, er komme wegen eines Erbstücks eines meiner Vorfahren, Antun Bona. Da ich kurz zuvor mit einem von Ihnen telefoniert hatte, dachte ich natürlich, er gehöre zu Ihnen und habe nur nicht länger warten wollen.«
Bulut hatte eine sehr gepflegte Ausdrucksweise. Seamus hatte ihn als schwerhörig oder langsam von Begriff geschildert,aber davon war nichts zu spüren. Kati bemerkte die Bücher in einem der Schränke, und in einer Ecke entdeckte sie ein Tischchen, auf dem ein Stethoskop und andere medizinische Utensilien lagen. War er Arzt? Aber warum wohnte er dann in einem so ärmlichen Viertel wie diesem?
Dem Alten war ihr fragender Blick nicht entgangen. Er lächelte zum ersten Mal. »Auch die Roma, die früher hier lebten, brauchten ärztliche Versorgung. Die meisten von ihnen waren nicht krankenversichert. Deshalb habe ich mich hier niedergelassen und sie behandelt. Wer konnte, hat mir ein wenig Geld gegeben; einmal bekam ich sogar einen Esel als Bezahlung. Ich selbst brauche nicht viel zum Leben. Das Haus hier habe ich geerbt, und wenn ich mal nicht flüssig war, habe ich eines der Erbstücke aus der Vitrine verkauft.«
»Können Sie den Mann beschreiben?«, lenkte Chris das Gespräch auf das ursprüngliche Thema zurück.
»Er war kein Türke, das ist sicher, auch wenn er gut Türkisch sprach. Ich denke mal, er war Europäer. Er hatte schwarze Haare, trug Jeans und darüber ein Jackett und war vielleicht so groß wie Sie.« Er deutete auf Chris. »Außerdem war er sehr gut informiert über meinen Vorfahren. Er schilderte mir die lange Suche, die er und seine Freunde hinter sich hätten, und weil er sehr vertrauenerweckend wirkte, habe ich ihm die Stücke in der Vitrine gezeigt. Er hat die Fibelscheibe sofort erkannt. Für mich hat sie keinen besonderen Wert, und ich hatte auch schon mal probiert, sie zu verkaufen, aber keiner der Händler, die ich normalerweise besuche, war daran interessiert. Deshalb war ich erstaunt, als er mir zwanzigtausend Euro dafür anbot. Die Höhe der Summe machtemich misstrauisch. Also habe ich ihn gebeten, in zwei Tagen noch einmal vorbeizukommen. Ich wollte mich erst ein wenig schlaumachen. Er versuchte, mich zu überreden, aber als er merkte, dass ich nicht nachgeben wollte, zog er eine Waffe und fesselte und knebelte mich. Dann sagte er noch, ich müsste lediglich bis zum nächsten Morgen ausharren. Den Rest kennen Sie ja.«
»Ja, leider«, sagte Chris.
Bulut erhob sich. »Es sieht so aus, als seien wir beide geschädigt worden, aber daran lässt sich jetzt wohl nichts mehr ändern.«
»Werden Sie denn keine Anzeige erstatten?«, wunderte sich Chris.
»Warum
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