Assassino
Welt, älter als Istanbul. Und jetzt alles weg, alles abgerissen, Roma und Vetter alle vertrieben.«
»Ich habe darüber gelesen«, sagte Kati, als sie den fragenden Blick von Chris bemerkte. »Seit tausend Jahren lebten die Roma hier. Byzantinische Geschichtsschreiber berichten von dem Volk mit seinen schwarzen Zelten, das sich im Schatten der gewaltigen Mauer niederließ. Sie verdienten ihr Geld als Musiker und Magier, als Pferdehändler und Bärenführer. Und von hier aus schwärmten sie aus nach Europa.«
»Und jetzt?«, fragte Chris, während Mustafa einem Bagger auswich.
»Jetzt Stadt hat alle Roma vertrieben, weit weg. Jetzt kein Leben mehr, alles tot.« Mustafa machte eine Handbewegung.
»Ein großer Teil wurde unter Druck umgesiedelt, in eine Vorstadt vierzig Kilometer weg von hier », ergänzte Kati. »Die Leute bekamen nur einen Spottpreis für ihre Häuser. Dafür ist das Viertel jetzt Millionen wert, und irgendwer wird schon daran verdient haben.«
Mustafa fuhr an einigen Rohbauten vorbei und bog in eine schmale Straße ein, in die die Abrissbagger noch nicht vorgedrungen waren. Er hielt vor einem Haus an, dessen Holzfassade in einem frischen Rosa in der Sonne leuchtete. Sie stiegen aus.
Eine Klingel war nirgendwo zu sehen. Kati klopfte gegen die Tür, die sich zu ihrer Überraschung einen Spalt weit öffnete.
Sie war nicht verschlossen.
Ein ungutes Gefühl machte sich in ihrer Magengegend breit. »Hallo!«, rief sie ins Dunkel des Flurs dahinter, erhielt aber keine Antwort.
»Nicht gut«, murmelte Mustafa, der hinter ihr stand. »Vielleicht lieber Polizei holen.«
»Ob er die Verabredung mit uns vergessen hat und ausgegangen ist?«, mutmaßte Chris. »Seamus hat doch gesagt, er sei ein etwas kauziger alter Herr.«
»Ausgehen, ohne die Tür hinter sich zuzumachen?« Kati schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht.«
Sie trat zur Seite, um einen Blick durch eines der beiden Fenster ins Haus zu werfen, aber der Einblick wurde durch Vorhänge versperrt. Kati ging zurück zur Tür und steckteerneut den Kopf in den Flur, in dem es nach frischer Farbe roch. »Hallo!«, rief sie noch einmal, diesmal etwas lauter. Als auch jetzt keine Antwort kam, stieß sie die Tür auf. »Ich sehe nach, was da los ist«, sagte sie entschlossen. Sie würde jetzt gewiss nicht umkehren, nur weil ein alter Mann eine Verabredung verpasst hatte. Sie wollte die Fibelscheibe haben! Nicht für sich, sondern für Mart, damit er sie möglichst schnell möglichst weit weg von hier brachte.
Zögerlich folgten ihr Chris und Mustafa. Durch die geöffnete Haustür fiel genug Licht in den Flur, der in der Tat frisch gestrichen war. Bulut schien sich darauf zu verlassen, dass seine Straße von den Abrissbaggern verschont werden würde.
Zur Rechten ging eine Tür ab. Kati klopfte, wartete einen Moment und stieß sie dann auf. Dahinter lag ein mit Sofas, Sesseln und dunklen Holzschränken vollgestopfter Wohnraum. Trotz der Vorhänge war es hell genug, um auch Einzelheiten erkennen zu können.
Auf einem der Sofas lag eine Gestalt.
Als sie sich näherten, erkannten sie einen alten Mann mit zerzaustem weißem Haar, dessen Arme und Beine mit grober Kordel zusammengebunden waren. Sein Mund war mit einem breiten Klebeband verschlossen.
Das konnte nur Bulut sein!
Sie waren zu spät gekommen!
Kati ließ die Schultern hängen. Sie hatte genug von Überfällen, Toten und Verfolgungen. Das war nicht ihre Welt und würde es auch nie werden.
Gemeinsam befreiten sie den alten Mann von seinen Fesseln. Hustend und ächzend setzte er sich auf. Kati fand dieKüche, ließ ein Glas Wasser ein und brachte es ihm. Bulut leerte es gierig bis auf den letzten Tropfen.
Dann sah er seine Besucher an. »Wer sind Sie?«
»Sind Sie Arif Bulut?«, fragte Kati zurück.
Der Mann nickte.
»Wir hatten gestern miteinander telefoniert. Wir sind hier wegen der Spange, die sich im Besitz eines Ihrer Vorfahren befand.«
Der Alte starrte sie an. Dann erhob er sich wortlos, machte ein paar vorsichtige Schritte, bis er sicher war, dass er gehen konnte, und führte sie in ein Hinterzimmer, das voller Kisten und Kästen stand. Aus dem Durcheinander ragte in einer Ecke eine Glasvitrine auf, deren Scheiben fingerdick mit Staub bedeckt waren. Rund um den Griff waren jedoch deutlich Fingerspuren in dem sonst ebenmäßigen Belag zu erkennen.
»Da«, sagte er und deutete auf die Vitrine. »Da hatte ich sie aufbewahrt.«
Chris stieg über ein paar Kartons und zog die
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