Aster, Christian von - Die grosse Erdfer
entfernte und an die Wand der Orakelhöhle trat. Sie flatterte kurz zur Seite, und dann war der Vermummte im Fels verschwunden. Flatternde Felsen?
Felsnessel! Es musste ein Vorhang aus Felsnessel sein, hinter dem vermutlich ein geheimer Gang lag… Sie tarnten nicht nur sich selber, sondern auch ihre Gänge!
Grübelnd drehte sich der langsam Begreifende unter den längst Eingeweihten an seinem Seil hängend mehrmals um die eigene Achse. Wie lange hatten sie schon Zugang zur Orakelhöhle? Seit wann beobachteten sie ihn und den Lauf des Olms? Wenn sie die Zeichen zu lesen vermochten, dann konnten sie den Lauf des Olms deuten. Das Grauen dieser unheimlichen Verschwörung wurde mit jedem Schlag größer.
Der Erschaudernde unter den Ahnungslosen wurde gepackt und auf die Empore hochgezerrt. Ein weiterer Zwerg lud ihn sich auf die Schulter und stapfte mit ihm die Treppe zum Eingang der Höhle hinab.
Der Wisser des Wissens grübelte noch immer über die geheimen Gänge nach. Wie tief mochten sie in die Felsen reichen? Wie weit erstreckten sie sich? Wohin vermochten diese schrecklichen Gestalten noch unbemerkt vorzudringen?
Das Tor der Orakelhöhle schwang auf, und der Vermummte schleppte ihn in die priesterlichen Gemächer. Und da erblickte er zu seiner Linken etwas, das ihn noch tiefer erschaudern ließ als die Entdeckung der Gänge der Verschwörer. Am Rand seiner Gemächer lag nämlich der überaus heilige Tümpel, in dem die Olme der Vorsehung lebten. Oder besser, gelebt hatten. Denn er konnte ihre bleichen Körper sehen, die blutüberströmt dalagen, die kurzen Gliedmaßen von sich gestreckt. Dahingemetzelt. Und die Schauderhafte, Immerschwarze, die Zwergenfresserin, suhlte sich in den Kadavern und fraß sich an ihnen satt.
Drei tote Olme. Keiner war ihnen entkommen. Nicht ein einziger. Von diesem Tag an würde das Orakel schweigen. Die Götter würden ihrem Volk ihren Willen nicht länger kundtun können, und der Verkünder alles zu Verkündenden würde, da es nichts mehr zu verkünden gab, kaum nützlicher sein als ein Humpen ohne Boden…
Heiße Tränen stiegen ihm in die Augen. Verbittert über das Schicksal der vertrauten Geschöpfe und die ruchlose Art, mit der die Verräter die alten Werte mit Stiefeln traten, vermochte er kaum dagegen anzukämpfen. Diese Kreaturen, die sich im Fels verbargen, sich vermummten und die Wurzel alles Zwergischen mit faulig verräterischen Zähnen zu zernagen schienen…
Plötzlich war er sich nicht einmal mehr sicher, ob sie ihn wirklich am Leben lassen würden. Oder ob die Wiedergekehrte sich nicht bald auch an seinen Innereien laben würde. Sicher, ihr Anführer hatte gesagt, dass sie ihn noch brauchten. Doch wenn sie nun ihre Meinung geändert hatte? In puncto Verschwörungen kannte er sich schließlich nicht aus.
Aber das Haar! Wenn er starb, würde es niemand hinab in die verborgene Höhle tragen können, und sie würden niemals den Namen desjenigen erfahren, der die Spitze jenes giftigen Speeres war, der auf das Eherne Volkes zielte!
Er durfte nicht sterben. Außerdem verspürte er auch nicht das Bedürfnis dazu. Wenn es geschah, würde er es freilich mit dem nötigen Stolz hinnehmen. Würdevoll. Aufrecht. Wie man derlei eben tat, wenn es sein musste. Auch da gab es gewisse Regeln.
Aber er würde sich für den Fall, dass sie ihm ein paar letzte Worte gönnten, noch etwas einfallen lassen müssen. Und das vergleichsweise schnell.
Gerade wurde er unsanft abgesetzt.
Er würde sie verfluchen. Ein paar hehre Worte über die Aussichtslosigkeit ihrer unheiligen Taten und den ewigen Bestand der alten Ordnung verlieren oder… Verfluchen war sicher gut. Aber womöglich sollte er auch seinen Geist in die Hände des ewigen Schmiedes empfehlen. Mit einem hübschen Gebet vielleicht. Er kannte einige hübsche Gebete, die… Aber er hatte sein Gedächtnis nicht dabei.
Doch ein Fluch ließ sich natürlich variieren. Da brauchte er kein Gedächtnis. Und dann war da noch die Möglichkeit, um sein Leben zu betteln… Optimal wäre freilich, würdevoll zu betteln, während er sie verfluchte. Das allerdings war ein schwieriges Unterfangen, und in der Kürze der Zeit…
Ein Knirschen war zu hören, so als würde eine Tür geöffnet. Hände packten ihn und schleiften ihn ein kurzes Stück weiter. Er wurde vorangestoßen, verlor das Gleichgewicht und kullerte in einen engen runden Raum.
Direkt neben sich vernahm er ein lautes metallisches Geräusch. Er drehte den Kopf ein wenig und
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