Asylon
unterdrückend an
das, was ihr möglicherweise gleich bevorstand, verweilte Saïna einige Momente
vor dem stählernen Gestell. Immer noch lugte die schwarze Strähne unter dem
Laken hervor. Sie nahm allen Mut zusammen und schlug den weißen Stoff beiseite.
Der Anblick traf sie wie ein
Faustschlag und ließ sie ein paar Schritte zurückprallen.
»O mein Gott. Lynn.«
Woran sie die Freundin erkannt
hatte, hätte Saïna nicht einmal zu sagen vermocht. Der völlig entkleidete
Körper war grausam entstellt, ein Bein und ein Arm fehlten, und ihre linke
Wange war weggerissen, sodass an dieser Seite ihre Zähne durch die grässliche
Wunde zu sehen waren. Doch trotz all dieser grauenhaften Entstellungen gab es
keinen Zweifel, wen sie da vor sich hatte. Selbst im Tod und zerfetzt, wie sie
waren, strahlten die verbliebenen langen Gliedmaßen eine eigentümliche Eleganz
aus, die in dem Zustand, in dem sich die Leiche befand, deplatziert, ja, fast
obszön wirkte. Wer mochte ihr nur diese fürchterlichen Verletzungen zugefügt haben?
Sie suchte nach einem Einlieferungszettel,
irgendeiner Notiz, die ihr Aufschluss darüber geben mochte, wo man sie gefunden
hatte. Doch da war nichts außer dem Körper selbst. Wenn Saïna nur die eine,
weniger versehrte Gesichtshälfte betrachtete, sah die Tote fast aus wie ihre
Lynn. Lynn, der Saïna ihr Leben verdankte. Lynn, mit der sie am Esstisch der
winzigen Wohnung die Erlebnisse unzähliger Tage bei einem Glas billigem
Pilzwein geteilt hatte. Wie konnte sie Poosah das nur jemals erklären?
»Eine Freundin von Ihnen?«
Der Schreck fuhr Saïna in die
Glieder wie ein elektrischer Schlag. Der Schlüsselbund, den sie immer noch in
der Hand gehalten hatte, rutschte ihr aus den Fingern und fiel scheppernd zu
Boden. Sie fuhr zur Tür herum. Der Mann, den sie im Gegenlicht der helleren
Flurbeleuchtung zuerst nur als Umriss ausmachen konnte, war groß und stämmig.
Seine Stimme klang jung.
»Tut mir leid, Mann … äh … ich
meine: Lady. Ich wollte Sie nicht erschrecken.«
Der Kerl trat weiter in den Raum,
woraufhin Saïna sein Gesicht im Schlaglicht einer Deckenleuchte sehen konnte.
Er schien von draußen, von der Oberfläche zu kommen. Die Sonne hatte seine Haut
verbrannt, das war selbst in diesem fahlgrünen Dämmer zu erkennen. Über ein
paar Shorts trug er ein T -Shirt mit einer Art Werbeaufdruck. Sein
Grinsen sah freundlich und ehrlich aus. Trotz seiner Größe und seines schweren
Körperbaus hatte er etwas Jungenhaftes.
Vorsichtig und nach einem kurzen
Blick in den Korridor schloss er die Tür hinter sich. Offensichtlich hatte er
in diesem Raum genauso viel zu suchen wie sie selbst. Saïna entspannte sich ein
wenig. Mit schaukelnden, schweren Schritten schlurfte der Kerl auf sie zu,
blieb neben ihr stehen, starrte auf die Bahre mit Lynns Leiche und kratzte sich
nachdenklich am Kinn.
»Üble Sache, das«, murmelte er.
Saïna war sich nicht sicher, ob
das eine Aussage war, die ihre Zustimmung erforderte. Nun, ihr war ohnehin
nicht nach Reden zumute, also schwieg sie.
»Kannten Sie sie?«, setzte er
nach, ohne sie anzusehen.
Sie überlegte einen Moment, bevor
sie zu dem Schluss kam, dass es allemal besser war, keinem Unbekannten zu
trauen. »Keine Ahnung, was dich das angeht.«
Aus den Augenwinkeln sah sie,
dass der Fremde rot anlief und von einem Fuß auf den anderen trat. Schon bereute
sie ihre Barschheit ein wenig, da zog er sich mit der Linken die zerschlissene
Mütze vom Kopf und hielt ihr die andere Hand hin. »Sorry. Habe wohl meine gute
Kinderstube vergessen. Ich bin Scooter. Scooter Darcy. Ich arbeite für die
Leveller. Sie wissen schon, wir wachen über das Kräftegleichgewicht zwischen
den Clans.«
Saïna ignorierte die dargebotene
Hand und nickte knapp. Jeder in der Stadt wusste, wer die Leveller waren. Ihrer
Meinung nach waren sie kaum besser als die Clans selbst. Killer eben. Aber
wenigstens verschonten die Leveller die normalen Leute.
Der Kerl vor ihr sah allerdings
trotz seiner Größe und offensichtlichen Körperkraft kaum wie ein Killer aus. Er
zog seine Hand zurück und kratzte sich am Kopf.
»Mein Boss und ich haben sie«, er
wies mit der Mütze vage auf Lynns Körper, »gefunden.«
Seine Gestik wirkte irgendwie
rührend und in Anbetracht der Situation zugleich recht komisch. Für einen
Moment hatte Saïna das Bedürfnis zu kichern, doch dann fiel ihr Blick wieder
auf Lynns entstelltes Gesicht, und das Lachen erstarb ihr in der Kehle. Sie
seufzte und bedeckte
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