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Asylon

Asylon

Titel: Asylon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Elbel
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die Leiche bis auf den Kopf wieder mit dem Laken. Zu
Lebzeiten hatte sich Lynn ihres nackten Körpers nie geschämt, was hinsichtlich
ihres Berufes wohl auch eine unpassende Empfindlichkeit gewesen wäre. Aber
Saïna hatte das unerklärliche Bedürfnis, das armselige bisschen, das von ihrer
Freundin übrig war, zu schützen.
    »Wo?«, fragte sie dann.
    Seine Gesichtszüge erschlafften,
was ihm ein wirklich tumbes Aussehen verlieh. »Wo, was?«
    »Wo habt ihr sie gefunden?«
    »Oh, natürlich. Das war draußen
an der Hadriana, unten im Süden der Stadt. Sie lag im Todesstreifen.«
    »Was, zum Teufel, hatte sie dort
zu suchen?«, fragte Saïna voller Unglauben.
    Scooter Darcy zuckte unter ihren
Worten regelrecht zusammen. Offenbar hatte sie mal wieder wütender geklungen,
als sie beabsichtigt hatte. Nun, das geschah ihr öfters. Meistens sogar. Aus
irgendeinem Grund klang sie häufig wütend und verärgert, ohne dass sie es
wollte. Nun, immerhin hielt das die Leute auf Abstand.
    »Tja, das wissen wir auch nicht«,
antwortete Scooter Darcy zögerlich. »Hatte gehofft, Sie könnten mir vielleicht
was dazu sagen, so wie Sie sie vorhin angesehen haben.«
    »Sie war meine beste Freundin«,
murmelte Saïna mehr zu sich selbst.
    »O shit. Ich meine: sorry. Das
hab ich nicht …«
    »Halt die Klappe!«, zischte Saïna
und hob mahnend den Zeigefinger.
    Auf dem Flur waren deutlich
Tritte zu hören. Zwei oder mehr Menschen. Sie unterhielten sich. Darcy sah sie
erschrocken an. Auch sie fühlte Panik in sich aufsteigen.
    Nein, nicht
jetzt. Zum Angsthaben hast du später noch Zeit.
    Während sich die Unbekannten
rasch und unaufhaltsam der Tür näherten, von der sie beide kaum zwei Dutzend
Schritte entfernt standen, suchte Saïna den Raum ab.
    Der Schacht.
    Sie deckte auch Lynns Gesicht
wieder mit dem Laken, ergriff den Arm des verdatterten Scooter Darcy und zog
ihn in den Schatten des riesigen Abzugrohrs. Dort kauerten sie sich mit dem
Rücken gegen die Wand auf den Boden.
    Kein perfektes
Versteck, dachte sie, aber besser als nichts. Sie legte den Finger an die Lippen, um Darcy zu bedeuten, dass er still sein
sollte.
    Schon befanden sich die
Unbekannten an der Tür, als er an Saïnas Ärmel zupfte und auf dem Boden vor
Lynns Bahre wies. Saïnas Herz setzte einen Schlag aus. Dort lag noch immer ihr
Schlüsselbund.
    »Dort hinten liegt sie«, klirrte
die Saïna nur allzu vertraute Stimme von Dr. Grosse, dem Chefarzt des St.
Niclas, eben jenes Mannes, dessen Hand sich neulich unter den Stoff ihrer
Uniform verirrt hatte, worauf wiederum ihre Hand
einen deutlichen Abdruck in seinem Gesicht hinterließ.
    Saïna hatte keinerlei Zweifel,
auf welche Leiche sich Dr. Grosses Worte bezogen. Er oder seine Begleitung würden
den Schlüsselbund mit Sicherheit entdecken. Sie ergriff die einzige Chance, die
ihr noch blieb, huschte auf allen vieren aus dem Schatten heraus, schnappte
sich den Schlüsselbund und verschwand unter Lynns Bahre, genau in dem
Augenblick, als die Tür geöffnet wurde. Sie zog sich vorsichtig bis ganz an die
Wand zurück, an die das Fußende der Bahre stieß, wofür sie ihre Knie anziehen
musste, und hoffte, dass die eintretenden Männer sie nicht entdecken würden.
    Es waren zwei. Sie unterhielten
sich angeregt und schienen sie nicht zu bemerken. Saïna krümmte noch zusätzlich
den Rücken und lag in Embryohaltung auf den kalten Fliesen.
    »Sie ist vorhin eingeliefert
worden«, sagte Grosse gerade zu seinem Gesprächspartner.
    »Sollte hier nicht abgeschlossen
und dunkel sein?«, fragte dieser. Seine Stimme triefte vor näselndem Hochmut.
    Sogleich setzte Grosse zu einer
Rechtfertigung an: »Ja, eigentlich schon, aber …«
    »Ersparen Sie mir Ihre
Ausflüchte«, fiel ihm der andere barsch ins Wort. »Sie sind mir persönlich
dafür verantwortlich, dass die Leiche verschwindet, bevor irgendwer seine Nase
in diese Angelegenheit steckt.«
    »Selbstverständlich«, antwortete
Dr. Grosse eilfertig. Noch nie hatte Saïna so viel unterschwellige Angst in
seiner Stimme vernommen. Wären die Umstände andere gewesen, sie hätte es
geradezu genossen, dass diese miese Kröte so nervös war.
    »Damit«, fuhr der andere fort
»meine ich insbesondere meinen lieben Kollegen von den Levellern. Verwehren Sie
ihm auf jeden Fall den Zugang zu diesem Raum, solange die Leiche noch
existiert, haben Sie mich verstanden?«
    »Ganz wie Sie wünschen. Er wird
sie nicht zu Gesicht bekommen«, beteuerte Dr. Grosse.
    »Sehr gut«, murmelte der

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