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Asylon

Asylon

Titel: Asylon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Elbel
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Bäume, Ranken
und Blumen in ein glühendes Farbenmeer getaucht. Dies, so erschien es Torn
jedes Mal, war das wirkliche Leben. Alles andere unterhalb der Außenhaut war
nur ein dämmriger und bizarrer Abglanz davon, ein ewiger fahler Albtraum. Wie
gern hätte er Yvette nur einmal diesen Reichtum gezeigt, der einem schier die
Tränen in die Augen trieb.
    Der Gedanke an seine Frau und
ihre Fehlgeburt ernüchterte Torn unvermittelt. Er nahm seinen Platz an dem
mächtigen Langtisch ein, den die Clanchefs für ihre Versammlungen auf die
Lichtung hatten stellen lassen. Ein nervöser Spatz, der sich bisher den
Brotkrumen auf der Tischplatte gewidmet hatte, flatterte auf und flog empört
zwitschernd den Baumkronen entgegen, die sich wie riesige Urwesen über die
Lichtung zu neigen schienen. Der Abend dämmerte bereits herauf. Eine rote Sonne
verschwand eben hinter den Wipfeln und ließ den Tisch im Schein der Fackeln
zurück, die man ringsherum in den grasbedeckten Boden gesteckt hatte. Die Luft
war erfüllt von dem würzigen Duft verrottenden Laubes.
    Neben Torn ließ sich sein Freund
und Förderer, Gouverneur Cassiel Vanderbilt, nieder. Nominell war er der
oberste Regierungschef der Stadt. Doch an diesem Tag zeigten sich die wahren
Machtverhältnisse. Tatsächlich waren es schon seit Langem die Clanchefs und
ihre Banden, die die Stadt beherrschten. Wer sich ihrem Willen nicht beugte,
ging unter und starb für gewöhnlich einen schmerzvollen Tod.
    Vanderbilt behielt seinen Posten
nur aus einem einzigen Grund: Untereinander heillos zerstritten hinsichtlich
ihres Einflusses, ihrer Territorien und Geschäftsinteressen, diente er den
Clanchefs als oberster Schiedsrichter. Neigte sich die Waage der Macht zu sehr
in Richtung eines Clans, so waren es Vanderbilts Leveller, die das fragile
Gleichgewicht wiederherstellten, was selten ohne Blutvergießen zu
bewerkstelligen war.
    Solange Vanderbilt und die
Leveller diese Aufgabe zur Zufriedenheit der Clanchefs erfüllten, war ihre
Existenz eine allseits akzeptierte Notwendigkeit, wurden Torn und seine
Kollegen respektiert, wenn auch nur widerwillig. Die Leveller bewahrten die
Stadt so immerhin vor allzu exzessiven Bandenkriegen. Doch die Tage des Gleichgewichts
waren längst gezählt und die Leveller dem Untergang geweiht, wie Torn schon
bald erfahren sollte.
    Einstweilen jedoch plagte ihn nur
ein ungutes Gefühl, das sich zu einer dunklen Ahnung verdichtete, als er sah,
wer just in diesem Moment und begleitet von respektvollem Kopfnicken der
anderen Clanchefs den Platz des Vorsitzenden am Kopf der Tafel einnahm. Es war
Vittorio Sputano, Clanführer des Bezirks Citta Nera, dessen Sohn an diesem
Morgen vor Torns Augen von einer Kugel getötet worden war. Kaum hatte sich der
stiernackige Alte in den überhohen Lehnstuhl fallen lassen, bedachte er ihn
auch schon mit einem durchdringenden Blick seiner schwarzen Augen. Torn spürte,
wie ihm unter dieser scharfen Musterung die Hitze ins Gesicht stieg. Dann
wandte Vittorio sich abrupt ab und begann seine Kollegen zu begrüßen, die
ebenfalls ihre Plätze eingenommen hatten.
    Auf dem Platz rechts neben
Vittorio saß dessen schärfster Konkurrent, Feng Hao, genannt Drei-Finger-Feng,
»Goldener Drache« der China-Clans in Tief-Kowloon. Auch Feng wandte Torn kurz
sein von Pocken zerfressenes, längliches Gesicht zu und betrachtete ihn aus
seinen schmalen, wässrig braunen Augen, als sei der Masterleveller eine Fliege
unter einem Glas, bevor der Chinese seine Aufmerksamkeit endlich anderen Dingen
zuwandte.
    Torn hatte seine nervöse Furcht
bisher noch bezähmen können, doch nun drohte sie die Kontrolle über ihn zu
gewinnen. Er war gekommen in der Erwartung seiner wohlverdienten und – bedachte
man, dass er den Job seit Ennius Ermordung faktisch schon seit gut einem Jahr
ausübte – überfälligen Beförderung. Doch in den Augen der Clanchefs stand etwas
ganz anderes geschrieben.
    Als auch der Letzte der
Clanführer Platz genommen hatte, gab Sputano einer bis dahin unsichtbaren
Gestalt mit einer knappen Handbewegung ein Zeichen. Aus dem Schatten der Bäume
trat ein Hüne. Sein großer Körper war in eine Rüstung aus Metall, Leder und
Tierfellen gehüllt und das Gesicht unter einem altertümlichen Helm verborgen,
der nur einen schmalen Sehschlitz für die Augen aufwies. Über seiner Schulter
trug er ein großes, längliches Bündel, das er neben Sputano auf den Tisch
gleiten ließ. Dann schlug der Gote das Laken zurück, in das das Bündel

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