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Asylon

Asylon

Titel: Asylon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Elbel
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sich zu bücken
und sie aufzuheben, wäre er fast hingefallen, hätte sie ihn nicht
festgehalten. Daraufhin hatte sie ihn in Richtung Treppe bugsiert, und er hatte
die Fotos vergessen.
    Für einen Moment schwankte sie
zwischen ihrem Impuls, Torn und alles, was mit ihm zusammenhing, so schnell wie
möglich zu vergessen, und einer unbestimmten Neugier. Schließlich bückte sie
sich und hob eines der Fotos auf. Darauf waren Torn und eine blonde Frau zu
sehen, lächelnd, Wange an Wange.
    Sie erkannte die Frau sofort!
    Es war die Verwirrte aus dem St.
Niclas.
    Saïna rief sich den Vorfall
zurück ins Gedächtnis. Was hatte sie noch gefaselt? Richtig: Ihr habt es gestohlen. Ihr habt mein Kind gestohlen. Und
jetzt war sie tot. Wahrscheinlich gestorben in jener Nacht, in der Saïna ihr
begegnet war. Selbstmord?
    Sie hob auch die anderen Fotos
auf. Auf allen war die blonde Frau zu sehen. Im Brautkleid. Im Bett, die kleinen,
blassen Brüste halb entblößt, genau dort liegend, wo Saïna noch vor ein paar
Minuten erwacht war. Sie hatte das Bett nicht nur mit Torn, sondern auch mit
einem Gespenst geteilt. Und das hatte gerade ein Gesicht bekommen. Sie
fröstelte.
    Ihr Blick ging zur Decke. Dort im
Raum über ihr lag er. Hätte er ihr zugehört, hätte er ihr geholfen, das Rätsel
um Lynns Tod zu lösen, hätte sie ihm sicherlich von dem Treffen mit seiner Frau
erzählt. Immerhin war sie womöglich eine der Letzten, die sie lebend gesehen
hatten. Aber er wollte sich ja lieber in seinem Selbstmitleid suhlen.
    Na und? Soll
er doch!
    Sie ließ die Fotos wieder zu
Boden fallen und verließ die Wohnung.

    »Meine Güte, wie viel
von diesen Dingern gibt es eigentlich?«, beschwerte sich Bulk. »Ich dachte, das
Bauen auf Brücken ist illegal.«
    Er wischte sich den Schweiß von
der breiten Stirn. Obwohl das Verdeck offen war, war die Hitze fast unerträglich.
    Pailey, der am Steuer des
Offroaders saß, zuckte mit den Schultern. »Sieht der Schwuchtel doch ähnlich,
in so einer illegalen Bruchbude zu wohnen.« Er drehte sich zu Scooter um und
blinzelte ihm mit hämischem Vergnügen zu. »Oder was meinst du dazu?«
    Scooter würdigte ihn keiner
Antwort. Tatsächlich war er damit beschäftigt, nach Fluchtmöglichkeiten zu
suchen, so gut es sein pochender Schädel und die Schmerzen, die von seinen
geprellten Rippen ausgingen, es zuließen. Die beiden hatten ihn mit
Handschellen an den Überrollbügel des Vehikels gekettet. Solange das so blieb,
tendierten seine Chancen, zu entkommen, wohl gegen Null. Zu allem Überfluss
begannen seine Hände, die nun schon eine knappe Stunde über seinem Kopf hingen,
langsam einzuschlafen. Keine guten Voraussetzungen für irgendeine Fluchtakrobatik.
    Er fragte sich, was die beiden
schrägen Vögel in seiner Wohnung eigentlich wollten. Eines schien ihm jedenfalls
klar: Er würde diesen Nachmittag nicht überleben, nachdem Rygor erfolgreich die
Wahrheit aus ihm herausgefoltert hatte. Als sie ihn zum achten, neunten oder
zehnten Mal so dicht an den Rand des Erstickens gebracht hatten, dass er schon
glaubte, die Harfen zu hören, hatte er es nicht mehr ausgehalten und ihnen
erzählt, was er wusste. Nichts, worauf er besonders stolz war. Andererseits war
ihm aus alter Erfahrung klar, dass man letztlich jeden Menschen brechen konnte.
Da machte er eben keine Ausnahme.
    Außerdem – was hatte er ihnen
groß erzählt, was sie nicht schon gewusst hatten? Nur Saïnas Existenz hatte er
ihnen verschwiegen. Allerdings würden sie ihr nur allzu schnell auf die
Schliche kommen, jetzt, da er die Tote an der Grenze für Rygor als Lynn Lidell
identifiziert hatte. Er musste sie warnen. Nur dass die Kerle ihm keine
Gelegenheit dafür geben würden.
    »Ist es hier?«, rief Pailey vom
Fahrersitz her und riss ihn damit aus seinen Grübeleien.
    Scooter schüttelte den Kopf. »Die
Nächste. Gleich da vorn«, murmelte er. Wirklich vergnüglich, wenn man seinem
Henker noch den Weg zum Richtplatz weisen musste.
    Etwa vierzig Meter vor ihnen
schmiegte sich Scooters Heimstatt, ein schlicht rechteckiger Wohncontainer aus
rostrotem Blech, an das Brückengeländer. Insgesamt nicht eben groß, aber wie er
schon zu Torn gesagt hatte: eine der billigsten Arten, direkt unter der Sonne
zu leben.
    Mit quietschenden Reifen kam der
Offroader vor der kleinen Veranda, die er an der einen Seite des Containers gezimmert
hatte, zum Stehen.
    »Endstation!«, rief Pailey. »Alle
Pissnelken aussteigen!« Bulk wollte sich schier ausschütten vor Lachen,

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