Asylon
die Stadt eindringen und hat dafür mit dem
Leben bezahlt, wie so viele andere vor ihr.«
Die Art, wie er plötzlich ihrem
Blick auswich … Saïna war sicher, dass er nicht die Wahrheit gesagt hatte.
»Unsinn«, widersprach sie. »Ich
hab die Leiche gesehen. Es war Lynn, und sie lebte in der Stadt. Also kam sie
nicht von draußen – sie wollte dorthin! Dein Kollege Scooter sagt, die Leiche
hätte auch so gelegen, dass das deutlich zu erkennen war.«
»Woher kennst du Scooter?«,
fragte er ärgerlich, fast so als wäre schon allein diese Bekanntschaft eine Art
von Anmaßung.
Saïna seufzte und erzählte ihm
von ihrem ersten Zusammentreffen mit Scooter im Krankenhaus und ihren Erlebnissen
in der Pathologie des Polizeigebäudes.
Seine Miene verdüsterte sich
zusehends. »Und wo ist Scooter jetzt?«, fragte er in barschen Tonfall eines
Verhörs.
Sie zuckte mit den Schultern.
»Hervorragend«, rief er und warf
die Arme in die Luft. »Ihr habt es geschafft, Rygor und seine zwei Pudel aufzuscheuchen.
Wahrscheinlich zerlegen sie Scooter gerade in seine Einzelteile. Was hast du
dir nur dabei gedacht, ihn in so einen Mist reinzuziehen?«
Saïna, die einen derartigen
Ausbruch nicht im Mindesten erwartet hatte, rang entrüstet um Worte. »Ich … ich
habe ihn in überhaupt nichts reingezogen. Er hat sich ganz von selbst für die
Umstände von Lynns Tod interessiert«, empörte sie sich. »Und das solltest du
auch. Irgendwer bei der Polizei ist für ihren Tod verantwortlich,
wahrscheinlich derselbe Typ, der mich angegriffen hat.«
»Ich bin kein Polizist. Die
Polizei geht mich einen feuchten Kehricht an. Geh doch zu Rygor, wenn du was
von den Bullen willst.«
Saïna war wie vor den Kopf
gestoßen. Sie konnte einfach nicht glauben, dass jemand so gleichgültig sein
konnte. »Dort draußen läuft irgendwer rum, der Menschen diese elende Lüge von
einem Paradies jenseits der Grenze auftischt und sie damit in den Tod lockt!«,
rief sie aufgebracht. »Meine Freundin Lynn ist darauf reingefallen und von
einer Mine zerfetzt worden, und ihre kleine Tochter ist jetzt eine Waise. Wer
weiß, wie viele solche Fälle es noch gibt. Dein Partner sagt, du kennst Leute
bei der Polizei, den Gouverneur, ja, sogar einige der Clanchefs. Geh zu ihnen.
Rede mit ihnen. Tu irgendwas!«
Vor lauter Aufregung war sie vom
Sessel aufgesprungen und stand nun direkt vor ihm.
Er schüttelte den Kopf und
vergrub das Gesicht in den Händen. Für einige Sekunden herrschte Schweigen.
Dann sah er sie wieder an.
»Hör mal zu, Süße«, sagte er
betont ruhig.
»Mein Name ist Saïna, Saïna Amri,
und ich bin ganz bestimmt nicht deine Süße!«
Keine besonders eindrucksvolle
Zurechtweisung, aber es hatte gut getan.
Er zuckte mit den Schultern und
begann erneut. »Also, dann sperr mal die Ohren auf, Saïna Amri. Auch ich hab
gerade nicht die beste Zeit meines Lebens.« Er fing an, sein Leid an den
Fingern abzuzählen, wobei ihn jeder neue Punkt zusehends in Rage brachte. »Erst
wirft man mich aus dem Job, und zwar für einen Mord, den ich nicht begangen
hab, und dann werd ich für vogelfrei erklärt. Im Krankenhaus erzählt mir so ein
Halbgott im Weißkittel, dass mein Kind tot zur Welt gekommen ist. Und am
nächsten Tag erklärt mir derselbe Wichser, dass sich meine Frau deswegen
umgebracht und sich bei der Gelegenheit gleich selbst eingeäschert hat. Eine
Gang von Mastons versucht mir das Licht auszupusten, und nach alledem habe ich
nichts Besseres zu tun, als das Andenken meiner verstorbenen Frau damit zu
ehren, indem ich mich mit einer Wildfremden ins Ehebett lege.«
»Es ist nichts passiert«,
entgegnete sie. »Hab ich dir doch gesagt.«
»Hoffentlich.«, murmelte er.
Wenn noch irgendetwas nötig
gewesen war, Saïnas vor sich hinsiedenden Zorn in kalte Wut zu verwandeln,
hatte er es soeben geschafft. »Fick dich doch selbst, du Arschloch!«
Statt einer Antwort ließ er sich
rücklings auf das Bett nieder.
Saïna brauchte keine weitere
Aufforderung. Sie verließ das Zimmer über die schmale Wendeltreppe, die in den
unteren Wohntrakt führte.
Das kleine Zimmer unten lag in
schwülem Halbdunkel. Dennoch entdeckte sie auf dem Weg zur Tür ein paar Fotos.
Sie erinnerte sich vage daran, dass sie Torn, als sie sich gegenseitig in die
Wohnung geschleppt hatten, aus der Beintasche seiner Hose gefingert hatte. Ja,
er hatte ihr die Fotos zeigen wollen und dabei von seiner toten Frau gelallt.
Sie waren ihm aus den Fingern geglitten, und bei dem Versuch,
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