@ E.R.O.S.
aufhören, ihn zu jagen, wenn wir seine ›Arbeit‹ verstehen würden, wie auch immer die aussehen mag.«
Ich lese leise vor: »›Wir werden nicht mehr Menschenleben als unbedingt nötig opfern.‹ Was hat das denn zu bedeuten?«
»Wir haben es hier mit einem gewissen Größenwahn zu tun. Ein gewaltiges Ego – oder eine Gruppe von Egos –, das glaubt, es sei Teil einer gewaltigen oder heiligen Mission. Das kommt ziemlich oft vor. Wer weiß schon, was für eine verdrehte Logik ihn denken läßt, mit seinen Morden würde er diemenschliche Rasse retten. Hitler dachte auch, er würde nicht mehr Menschenleben als nötig opfern, als er sechs Millionen Juden ermordete.«
»Ich weiß nicht«, sage ich und werfe noch einen Blick auf die Mitteilung. »Der Tonfall ist schaurig. Als würde Jones Salk ein paar Steinzeitmenschen seinen Polioimpfstoff erklären. Sie wissen schon: ›Ein paar von euch bleiben vielleicht gelähmt, aber letzten Endes ist es zu euer aller Vorteil.‹«
»Albert Sabin hat diesen Impfstoff entwickelt«, sagt Lenz leise. »Aber Sie haben recht.«
»Dallas war sein Frühwarnsystem. Das ist seine Antwort. Er ist in die FBI-Computer eingedrungen, um sie zu übermitteln. Schon allein diese Tatsache ist eine Drohung. Er sagt Ihnen damit, daß Sie nicht in seiner Liga spielen, Doktor.«
»Er irrt sich«, sagt Lenz ruhig und zeigt auf die um ihn herum aufgebaute Technik. »Heute abend ist der commencement de la fin .«
»Der was?«
»Der Anfang vom Ende.«
Ich präge mir die Nachricht ein, bevor Lenz sie beiseite legen kann. »Ich habe Daniel gesagt, in einer Stunde würde ich mich mit einer Analyse bei ihm melden«, fährt er fort. »Wir werden diese Stunden in EROS verbringen. Sind Sie bereit, mich anzuleiten, Cole?«
Trotz meiner Erschöpfung und meines Zorns darüber, von ihm in meine derzeitige Rolle gezwungen worden zu sein, strömt eine starke Aufregung durch meinen Körper. Der Mann, der Karin Wheat ermordet hat, hat gerade eine direkte Herausforderung ausgesprochen, und keinem männlichen Südstaatler fällt es leicht, so etwas zu ignorieren. Es mag kindisch und atavistisch sein, beschleunigt aber ganz entschieden meinen Puls. Ich beiße ein großes Stück von der kalten Pizza ab und spüle es mit Diät-Coke herunter.
»Nageln wir dieses arrogante Arschloch fest.«
Dr. Lenz und ich sind seit fast zwei Stunden in EROS eingeloggt. Er wechselte für fünf Minuten zu Microsoft Word,um eine Analyse der »Strobekker«-Nachricht zu schreiben und sie Daniel Baxter in Quantico zu faxen, doch abgesehen davon sind wir zwei Stunden lang wie Schleppangelfischer an einem Morgen, an dem die Barsche nicht so richtig beißen wollen, durch die privaten Chatrooms gezogen, haben mit Angelhaken versehene Metallköder unter vielversprechend aussehende Bäume und Piere geworfen und künstliche Würmer über dunklen Grund gezogen. Mit Jan Krislovs bedingter Zustimmung hat Miles es Lenz ermöglicht, Räume zu überwachen, die die Abonnenten für privat halten. Der Psychiater scheint von jeder neuen Begegnung überrascht zu sein, ob es sich nun um ein heißes Stelldichein im England während der Regentschaft Georg IV. handelt oder um ein postnukleares Tête-à-Tête in einer virtuellen Retropunk-Spelunke.
All meine Systemfragen über den Strobekker-Zugriff haben dieselbe Antwort erbracht: Abonnent zur Zeit nicht eingeloggt. Die Zeichen, die über meinen Bildschirm rollen, haben sich schon vor langem in eine Buchstabensuppe verwandelt, und der Rasterdrucker, der sie aufzeichnet, klingt nun wie eine Horde kokainsüchtiger Wüstenmäuse.
Plötzlich wird mein Blick wieder klar, und ein betäubendes Prickeln wärmt meine Armrücken. »Gehen Sie rüber!« rufe ich Lenz zu und springe von dem Toshiba auf.
Bevor er sich auch nur aus seinem Stuhl erheben kann, klicke ich den Dell aus dem Raum, in dem er war, in den, den ich eingesehen habe.
»Was ist los?« fragt er über meine Schulter. »Ist es Strobekker?«
»Vielleicht«, erwidere ich und setze mich hinter den Toshiba. »Lesen Sie einfach, und passen Sie auf.«
Lenz zieht den Stuhl heran und beugt sich vor, bis seine Nase fast den Bildschirm des Dell berührt. »›Levon‹ und ›Sarah‹? Das sind nicht seine Pseudonyme.«
»Ich glaube, er ist ›Levon‹.«
»Warum hat Turner dann nicht angerufen?«
»Verdammt, lesen Sie, was auf dem Bildschirm steht! Lesen Sie ›Levon‹.«
»Dieses Zeug über Gott?«
»Ja! Sehen Sie doch, wie schnell er antwortet. Und
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