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Atemschaukel

Titel: Atemschaukel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Mueller
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von ihrem einen strengen Menschen den guten Platz in der Wäschekammer hat, im Unterschied zu mir. Sie beklagt sich über Tur Prikulitsch, sie will zu uns gehören, aber so leben wie er. Wenn sie schnell spricht, ist sie manchmal nah dran, den Unterschied zwischen uns und ihr zu verleugnen. Doch kurz bevor das geschieht, schlüpft sie in ihre Sicherheit zurück. Kann sein, dass ihre Augen wegen dieser Sicherheit im abgleitenden Blick so länglich werden. Kann sein, dass ihr Vorteil sie beschäftigt, wenn sie mit mir spricht. Und dass sie so viel redet, weil sie außer ihrem strengen Menschen noch ein bisschen Freiheit haben will, von der er nichts weiß. Kann sein, dass sie mich aus der Reserve lockt, dass sie ihm alles beichtet, was sie mit uns spricht.
    Bea, sage ich, das Lied von meiner Kindheit geht so:
    Sonne hoch im Schleier,
    gelber Mais,
    keine Zeit
    Denn der stärkste Geruch meiner Kindheit ist der faulige Gestank von keimenden Maiskörnern. Wir sind in die großen Ferien auf die Wench gefahren und acht Wochen geblieben. Wir sind aus den großen Ferien wiedergekommen. Auf dem Sandhaufen im Hof hatte der Mais gekeimt. Wennich ihn aus dem Sand herauszog, weiße Wurzelfäden und seitlich drangehängt das stinkiggelbe alte Korn.
    Bea wiederholt: Gelber Mais, keine Zeit. Dann lutscht sie an ihrem Finger und sagt: Gut, dass man wächst.
    Bea Zakel ist einen halben Kopf größer als ich. Ihre Zöpfe sind um den Kopf gerollt, ein armdicker Seidenstrick. Vielleicht sieht ihr Kopf nicht nur so stolz aus, weil sie in der Wäschkammer sitzt, sondern weil sie diese schweren Haare tragen muss. Wahrscheinlich hat sie diese schweren Haare schon als Kind gehabt, damit ihr in dem versteckten armen Dorf die Berge nicht von oben durch den Kopf schauen, bis sie stirbt.
    Aber hier im Lager stirbt sie nicht. Tur Prikulitsch wird dafür sorgen.

Eintropfenzuvielglück für Irma Pfeifer
    Schon Ende Oktober schneite es Eisnägel in den Regen. Der Begleitposten und der Vorprüfer teilten uns die Norm zu und gingen gleich wieder ins Lager, in ihre warmen Dienststuben. Auf der Baustelle begann ein stiller Tag ohne Angst vor dem Geschrei der Kommandos.
    Doch mitten in diesen stillen Tag hat Irma Pfeifer geschrien. Vielleicht HILFEHILFE oder ICHWILLNICHTMEHR, man hat es nicht deutlich hören können. Wir sind mit Schaufeln und Holzlatten zur Mörtelgrube gerannt, nicht schnell genug, der Bauleiter stand schon da. Wir mussten alles aus den Händen fallenlassen. Ruki na sad, Hände auf den Rücken – mit einer erhobenen Schaufel hat er uns gezwungen, tatenlos in den Mörtel zu schauen.
    Die Irma Pfeifer lag mit dem Gesicht nach unten, der Mörtel machte Blasen. Erst schluckte der Mörtel ihre Arme, dann schob sich die graue Decke bis zu den Kniekehlen hoch. Ewig lang, ein paar Sekunden, wartete der Mörtel mit gekräuselten Rüschen. Dann schwappte er mit einem Mal bis zur Hüfte. Zwischen Kopf und Mütze wackelte die Brühe. Der Kopf sank und die Mütze hob sich. Mit den gespreizten Ohrenklappen trieb die Mütze langsam an den Rand wie eine aufgeplusterte Taube. Der Hinterkopf, kahlgeschoren mit den verkrusteten Läusebissen, hielt sich noch oben wie eine halbe Zuckermelone. Als auch der Kopf geschluckt war, nur noch der Buckel herausschaute, sagte der Bauleiter: Schalko, otschin Schalko.
    Dann trieb er uns mit der Schaufel an den Baustellenrand zu den Kalkfrauen, alle auf einen Haufen, und schrie: Wnimanje liudej. Der Akkordeonspieler Konrad Fonn musste übersetzten: Achtung Leute, wenn ein Saboteur den Tod will, soll er ihn haben. Sie ist hineingesprungen. Die Maurer haben es vom Gerüst oben gesehen.
    Wir mussten uns aufstellen und in den Lagerhof marschieren. Es gab an diesem frühen Vormittag Appell. Es schneite immer noch Eisnägel in den Regen, und wir standen von außen und von innen monströs still in unserem Entsetzen. Schischtwanjonow kam aus seiner Dienststube gerannt und brüllte. Um seinen Mund schäumte der Speichel wie bei einem überhitzten Pferd. Er warf seine Lederhandschuhe zwischen uns. Wo sie hinfielen, musste sich einer bücken und ihm den Handschuh jedesmal wieder nach vorne bringen. Wieder und wieder. Dann überließ er uns Tur Prikulitsch. Der trug einen Wachstuchmantel und Gummistiefel. Er ließ durchzählen, vortreten, zurücktreten, durchzählen, vortreten, zurücktreten bis in die Abendstunden.
    Wann die Irma Pfeifer aus der Mörtelgrube geholt und wo sie verscharrt wurde, weiß niemand. Am nächsten Morgen

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