Atemschaukel
Anweisungen warten musste. Solang wir zwischen den Stricken für unsere Erschießung zwei Gänge schippten, schlief er. Ich weiß nicht wie lang, bis der Himmel grau wurde. Und solang wiederholte mir der Takt der Schaufel: Ich weiß, du kommst wieder. Ich war vom Schippen schon wieder ernüchtert und wollte lieber weiter für die Russen hungern, frieren und schuften, als erschossen werden. Ich gab der Großmutter recht: Ich komm wieder, widersprach aber dennoch mit: Ja aber weißt du, wie schwer das ist.
Dann stieg Schischtwanjonow aus der Kabine, rieb sich das Kinn und schüttelte die Beine, weil sie vielleicht noch schliefen. Er winkte die Eingemummten zu sich. Sie öffneten die Ladeklappe und schmissen Spitzhacken und Brechstangen herunter. Schischtwanjonow gestikulierte mit dem Zeigefinger, sprach ungewöhnlich kurz und leise. Er stieg wieder in die Kabine, und das leere Auto fuhr mit ihm davon.
Tur musste dem Gemurmel den Befehlston geben und schrie: Baumlöcher graben.
Wie Geschenke suchten wir die Werkzeuge im Schnee. Die Erde war knochenhart gefroren. Die Spitzhacken prallten ab, die Brechstangen tönten wie Eisen auf Eisen. Nussgroße Brocken spritzten uns ins Gesicht. Ich schwitzte im Frost und fror im Schwitzen. Ich zerfiel in eine Gluthälfte und eine Eishälfte. Der Oberkörper war ausgebrannt, beugte sich mechanisch und gluste aus Angst vor der Norm. Der Unterleib war ausgefroren, die Beine schoben sich totkalt in die Därme.
Nachmittags waren die Hände blutig, die Baumlöcher aber nicht tiefer als eine Hand. So blieben sie.
Erst im Spätfrühjahr wurden die Löcher fertiggegraben und zwei lange Baumreihen gepflanzt. Die Allee wuchs schnell. Diese Bäume gab es sonst nirgends, nicht in der Steppe, nicht im Russendorf und in keinem Ort der Umgebung. Die ganzen Jahre wusste niemand im Lager, wie die Bäume heißen. Je größer sie wurden, um so weißer wurden Astholz und Stämme. Nicht filigran und wachsweiß durchscheinend wie die Birken, sondern imposant im Wuchs und mit stumpfer Haut wie Gipspaste.
Als ich im ersten Sommer aus dem Lager daheim war, sah ich diese gipsweißen Lagerbäume im Erlenpark, alt und riesig. Im Baumlexikon von meinem Onkel Edwin stand: Der schnellwachsende Baum schießt bis zu 35 Meter in die Höhe. Standhaftigkeit bezeugt der Baum mit seinem Stamm, der 2 Meter dick werden und ein Lebensalter von 200 Jahren erreichen kann.
Mein Onkel Edwin ahnte nicht, wie richtig, besser gesagt treffend, die Beschreibung war, als er mir das Wort SCHIESST vorlas. Er sagte: Dieser Baum ist anspruchslos und ausgesprochen schön. Aber majestätisch verlogen.Wieso nennt er sich SCHWARZPAPPEL mit seinem weißen Stamm.
Ich habe nicht widersprochen. Nur gedacht hab ich mir: Wenn man einmal unterm schwarzlackierten Himmel die halbe Nacht auf die Erschießung gewartet hat, ist der Name nicht mehr verlogen.
Taschentuch und Mäuse
Im Lager gab es vielerlei Tücher. Das Leben ging von einem Tuch zum anderen. Vom Fußwickeltuch zum Handtuch, zum Brottuch, zum Meldekrautkopfkissentuch, zum Hausier- und Betteltuch und sogar zum Taschentuch, wenn man überhaupt eines hatte.
Die Russen im Lager brauchten kein Taschentuch. Sie pressten das eine Nasenloch mit dem Zeigefinger zu und bliesen den Rotz durchs andere wie Teig auf den Boden. Dann pressten sie das saubere Nasenloch zu, und der Rotz spritzte durchs andere. Ich habe geübt, bei mir flog der Rotz nicht weg. Niemand im Lager nahm zum Naseputzen ein Taschentuch. Wer eines hatte, brauchte es als Beutel für Zucker und Salz. Wenn es ganz zerrissen war, als Klopapier.
Einmal bekam ich ein Taschentuch geschenkt von einer Russin. Es war sehr kalt. Mich trieb der Hunger. Nach der Arbeit ging ich wieder mal ins Russendorf hausieren mit einem Stück Anthrazitkohle, das man jetzt zum Heizen brauchte. Ich klopfte an eine Tür. Eine alte Russin öffnete, nahm mir die Kohle ab und ließ mich ins Haus. Das Zimmer war niedrig, in der Wand das Fenster so tief wie mein Knie. Auf einem Hocker standen zwei magere, grauweiß gescheckte Hühner. Dem einen Huhn hing der Kamm übers Auge, es schlenkerte mit dem Kopf wie ein Mensch ohne Hände, dem das Haar ins Gesicht fällt.
Die alte Frau redete seit einer Weile. Ich verstand nur hie und da ein Wort, spürte aber, worum es ging. Dass sieAngst vor den Nachbarn hat, dass sie schon lange mit zwei Hühnern allein ist, aber lieber mit den Hühnern redet, als mit den Nachbarn. Dass sie einen Sohn in meinem Alter hat,
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