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Atemschaukel

Titel: Atemschaukel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Mueller
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Gefreite sind Freier, Unter- und Oberliebhaber.
    Denn bei uns zu Hause war der Obergefreite Dietrich ausdem Reich einquartiert. Meine Mutter machte Sonnenbad auf dem Schuppendach, und der Dietrich betrachtete sie mit dem Fernglas aus der Dachluke. Und mein Vater beobachtete ihn von der Veranda, zerrte ihn in den Hof und zerschlug sein Fernglas mit dem Hammer auf dem Hofpflaster neben dem Schuppen. Meine Mutter zog mit einem Säckchen Kleider unterm Arm für zwei Tage zu meiner Fini-Tante. Schon eine Woche vorher hatte der Dietrich meiner Mutter zum Geburtstag zwei Mokkatassen geschenkt. Es war meine Schuld, ich hatte ihm gesagt, dass sie Mokkatassen sammelt, und war mit ihm ins Porzellangeschäft gegangen. Dort habe ich dem Dietrich zwei Tässchen empfohlen, die meiner Mutter ganz bestimmt gefallen würden. Sie waren blassrosa wie feinster Knorpel, hatten einen Silberrand und einen Silbertropfen oben am Henkel.
    Mein zweitliebstes Abzeichen war aus Bakelit, ein Edelweiß mit Phosphor, das in der Nacht leuchtete wie der Wecker.
    Der Naturkundelehrer ging in den Krieg und kam nicht wieder. Der Lateinlehrer kam aus dem Krieg in den Fronturlaub und schaute bei uns in der Schule vorbei. Er setzte sich ans Katheder und hielt eine Lateinstunde. Sie war schnell zu Ende und ganz anders, als er dachte. Ein Schüler, der schon oft mit Hagebutten dekoriert worden war, sagte gleich zu Beginn: Herr Lehrer, erzählen Sie, wie ist es an der Front. Der Lehrer biss sich auf die Lippen und sagte: Nicht wie ihr glaubt. Und dann wurde er so starr im Gesicht und zittrig an den Händen, wie wir ihn gar nicht kannten. Nicht wie ihr glaubt, wiederholte er. Und dann legte er den Kopf auf den Tisch, ließ die Arme wie eine Fetzenpuppe am Stuhl herunterhängen und weinte.
    Das Russendorf ist klein. Wenn man betteln geht, hofft man, dass man keinen anderen Bettler aus dem Lager trifft. Alle betteln mit Kohle. Wenn man ein echter Bettler ist, versteckt man seine Hände. Man trägt sein Stück Kohle im Fetzen wie ein schlafendes Kind auf dem Arm. Man klopft an eine Tür, und wenn sie aufgeht, lupft man den Fetzen und zeigt, was man hat. Ab Mai und bis im September stehen die Aussichten mit einem Stück Kohle nicht gut. Aber man hat nur Kohle.
    Ich sah Petunien in einem Hausgarten, eine ganze Vitrine voller blassrosa Tässchen mit Silberrand. Im Weitergehen schloss ich die Augen und sagte MOKKATASSE und zählte die Buchstaben im Kopf: zehn. Und dann zählte ich zehn Schritte, danach zwanzig für beide Tassen. Wo ich stehenblieb, war aber kein Haus. Ich zählte bis einhundert für alle zehn Mokkatassen, die meine Mutter zu Hause in der Vitrine stehen hatte, und war drei Häuser weiter gekommen. Im Garten waren keine Petunien. Ich klopfte an die erste Tür.

Vom Fahren
    Fahren war immer ein Glück.
    Erstens: Solang du fährst, bist du noch nicht angekommen. Solang du nicht angekommen bist, musst du noch nicht arbeiten. Fahren ist Schonzeit.
    Zweitens: Wenn du fährst, kommst du in eine Gegend, die sich überhaupt nicht um dich schert. Von einem Baum kann man nicht angeschrien und nicht verprügelt werden. Unter einem Baum schon, aber er kann nichts dafür.
    Der einzige Anhaltspunkt, den wir bei der Ankunft im Lager hatten, war NOWO-GORLOWKA. Das konnte ein Name für das Lager sein oder für eine Stadt, auch für die ganze Umgebung. Der Name der Fabrik konnte es nicht sein, denn die hieß KOKSOCHIM-SAWOD. Und im Lagerhof neben dem Wasserhahn lag ein gusseiserner Kanaldeckel mit kyrillischen Buchstaben. Mit meinem Schulgriechisch reimte ich mir DNJEPROPETROWSK zusammen, und das konnte eine nahe Stadt oder bloß eine Gießerei am anderen Ende Russlands sein. Wenn man aus dem Lager herauskam, sah man statt Buchstaben die weite Steppe und bewohnte Orte in der Steppe. Auch deshalb war das Fahren ein Glück.
    Die Transportleute wurden jeden Morgen in der Garage hinterm Lager auf Autos verteilt, meistens zu zweit. Karli Halmen und ich kamen zu einem Viertonner-LANCIA, ein Modell aus den dreißiger Jahren. Wir kannten alle fünf Autos aus der Garage, ihre Vor- und Nachteile. Der Lanciawar gut, nicht so hoch und ganz aus Blech, kein bisschen Holz. Schlechter war der Fünftonner-MAN, dessen Räder einem bis zur Brust gingen. Und zu dem besseren Lancia gehörte auch der Schofför Kobelian mit dem schiefen Mund. Er war gutmütig.
    Wenn Kobelian KIRPITSCH sagte, verstanden wir, heute holen wir rote Brennziegel und fahren durch die randlose Steppe. Wenn es in der

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