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Atemschaukel

Titel: Atemschaukel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Mueller
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schien die Sonne kalt und blank. Es war frischer Mörtel in der Grube, es war wie immer. Niemand hat den Vortag erwähnt. Manch einer hat bestimmt an die Irma Pfeifer gedacht und an ihre gute Mütze und den guten Watteanzug, weil die Irma Pfeifer wahrscheinlich angezogen unter die Erde kam und Tote keine Kleider brauchen, wenn Lebende erfrieren.
    Die Irma Pfeifer wollte den Weg abkürzen und konnte mit dem Zementsack vor dem Bauch nicht sehen, wo ihre Füße hintreten. Der Sack war vom Eisregen vollgesoffen undist zuallererst untergegangen. Darum konnten wir keinen Sack mehr sehen, als wir an die Mörtelgrube kamen. Das meinte der Akkordeonspieler Konrad Fonn. Meinen kann man allerhand. Wissen kann man es nicht.

Schwarzpappeln
    Es war die Nacht vom 31. Dezember zum 1. Januar, die Neujahrsnacht im zweiten Jahr. Wir wurden um Halbnacht vom Lautsprecher auf den Appellplatz befohlen. Flankiert von acht Wachsoldaten mit ihren Gewehren und Hunden trieb man uns die Lagerstraße entlang. Ein Lastauto fuhr hinterher. Im hohen Schnee an der Rückseite der Fabrik, wo das Brachland anfing, mussten wir uns vor dem gemauerten Zaun in Reihen aufstellen und warten. Wir dachten, das ist die Nacht der Erschießung.
    Ich drängte mich in die vordere Reihe, dass ich unter den ersten bin, nicht vorher noch Leichen aufladen muss – denn das Lastauto wartete am Straßenrand. Schischtwanjonow und Tur Prikulitsch waren in die Kabine gekrochen, und der Motor lief, damit sie nicht frieren. Die Wachsoldaten gingen auf und ab. Die Hunde standen beisammen, der Frost drückte ihre Augen zu. Hie und da hoben sie die Pfoten, um nicht anzufrieren.
    Da standen wir, vergreist im Gesicht, die Augenbrauen aus Rauhreif. Manchen Frauen bibberten die Lippen nicht nur vom Frieren, sie murmelten Gebete. Ich sagte mir, jetzt hat alles ein Ende. Der Abschied meiner Großmutter war: Ich weiß, du kommst wieder. Das war zwar auch in der Mitte der Nacht, aber in der Mitte der Welt. Jetzt haben sie zu Hause Silvester gefeiert, um Mitternacht vielleicht auf mich angestoßen, damit ich lebe. Hoffentlich haben sie die ersten Stunden im neuen Jahr an mich gedacht und sichdann ins warme Bett gelegt. Auf dem Nachtkästchen der Großmutter liegt schon ihr Ehering, den sie jeden Abend abstreift, weil er drückt. Und ich stehe und warte auf die Erschießung. Ich sah uns alle in einer riesengroßen Schachtel stehen. Ihr Himmeldeckel war schwarzlackiert von der Nacht und geschmückt mit scharf geschliffenen Sternen. Und der Boden der Schachtel war knietief ausgelegt mit Watte, damit wir ins Weiche fallen. Und die Wände der Schachtel waren drapiert mit steifem Eisbrokat, seidigem Fransengewirr und Spitzenstoff ohne Ende. Auf der Lagermauer drüben, zwischen den Wachtürmen, war der Schnee ein Katafalk. Darauf stand ein turmhohes Etagenbett in den Himmel, ein Etagensarg, in dem wir alle übereinander aufgebahrt Platz hatten wie in den Bettgestellen der Baracken. Über der obersten Etage lag der schwarzlackierte Deckel. In den Wachtürmen am Kopf- und Fußende des Katafalks hielten zwei Schwarzgekleidete aus der Ehrengarde Totenwache. Am Kopfende in Richtung Lagertor schimmerte das Bewachungslicht des Lagerhofs wie Kerzenleuchter. Am dunkleren Fußende stand die Krone des schneebedeckten Maulbeerbaums als prunkvolles Blumengebinde mit allen Namen auf zahllosen Papierschleifen. Schnee dämpft, dachte ich, das Schießen wird man kaum hören. Unsere Angehörigen schlafen angesäuselt, arglos und silvestermüd in der Mitte der Welt. Vielleicht träumen sie von unserem verwunschenen Begräbnis im neuen Jahr.
    Ich wollte aus der Schachtel mit dem Etagensarg gar nicht mehr heraus. Wenn man seine Todesangst bezwingen will, ihr aber nicht entkommen kann, schaltet sie um auf Betörung. Auch die Eiseskälte, in der man sich nicht rührendarf, spinnt das Grausige mild. In der Trance des Erfrierens ergab ich mich dem Erschießen.
    Aber dann warfen uns zwei eingemummte Russen vom Anhänger des Autos Schaufeln vor die Füße. Tur Prikulitsch und einer der Eingemummten legten zwischen die Dunkelheit und Schneehelle vier zusammengeknotete Stricke parallel zur Fabrikmauer. Der Kommandant Schischtwanjonow war in der Kabine im Sitzen eingeschlafen. Vielleicht war er betrunken. Er schlief mit dem Kinn auf der Brust wie ein Reisender, der am letzten Bahnhof im Zugabteil vergessen wird. Er schlief, solang wie wir schippten. Nein, wir schippten, solang er schlief, weil Tur Prikulitsch auf seine

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