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Atemschaukel

Titel: Atemschaukel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Mueller
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fuhren wir in Kobelians Hof. Das Auto hielt mit einem Ruck, und ich stand bis zu den Hüftenin einem kahlen, wahrscheinlich ausgedorrten Obstbaum, voll mit schrumpeligen Kugeln aus dem letzten oder vorletzten Sommer. Karli kletterte zu mir hoch. Dieses letzte Tageslicht hängte uns Obst vors Gesicht, und Kobelian ließ uns vor dem Abladen pflücken.
    Die Kugeln waren holztrocken, man musste lutschen und saugen, bis sie nach Weichseln schmeckten. Wenn man gut kaute, wurde der Kern auf der Zunge ganz glatt und heiß. Diese Nachtweichseln waren ein Glück, aber sie machten den Hunger noch größer.
    Auf der Heimfahrt war die Nacht aus Tinte. Spät ins Lager zu kommen, war gut. Der Appell war vorbei, das Abendessen hatte längst begonnen. Im Kessel war die dünne Suppe von oben schon an andere verteilt. Die Chance auf Dickes von unten war größer.
    Aber zu spät ins Lager zu kommen, war schlimm. Dann war die Suppe alle. Dann hatte man nichts außer dieser großen leeren Nacht mit den Läusen.

Von strengen Menschen
    Bea Zakel hat sich am Brunnen die Hände gewaschen und kommt jetzt den Korso entlang. Sie setzt sich zu mir auf die Bank mit der Lehne. Ihre Augen gleiten in den schiefen Blick ab und haben etwas vom Schielen. Sie schielt nicht, sie baut in ihre Augendrehung diese gewisse Verzögerung ein, weil sie weiß, das macht sie apart. So apart, dass ich befangen bin. Sie fängt an zu reden, einfach an zu reden. Sie spricht so schnell wie Tur Prikulitsch, nur nicht so kapriziös. Ihren abgleitenden Blick dreht sie hinüber zur Fabrik, schaut der Kühlturmwolke nach und erzählt von den Dreiländerbergen, wo die Ukraine, Bessarabien und die Slowakei zusammenkommen.
    Die Berge von zu Hause zählt sie langsamer auf, die Niedere Tatra, die Beskiden, die in die Waldkarpaten münden, am Oberlauf der Theiß. Mein Dorf heißt Lugi, sagt sie, ein verstecktes armes Dorf bei Kaschau. Dort schauen uns die Berge von oben durch den Kopf, bis wir sterben. Wer dort bleibt, wird tiefsinnig, viele ziehen weg. Darum bin auch ich nach Prag, aufs Konservatorium.
    Der große Kühlturm ist eine Matrone, er trägt seine dunkle Holzverschalung auf den Hüften wie ein Korsett. So eingezwängt, steigen der Matrone Tag und Nacht weiße Wolken aus dem Maul. Und die ziehen auch weg wie die Leute aus Bea Zakels Bergen.
    Ich erzähle Bea von den Bergen aus Siebenbürgen, immernoch Karpaten, sage ich. Nur bei uns haben die Berge runde tiefe Seen. Man sagt, es sind Meeraugen, so tief, dass ihr Grund mit dem Schwarzen Meer in Verbindung steht. Man ist mit den Fußsohlen auf dem Berg und mit den Augen am Meer, wenn man in einen Bergsee schaut. Mein Großvater sagt, die Karpaten tragen das Schwarze Meer unterirdisch auf dem Arm.
    Dann redet Bea von Artur Prikulitsch, dass er zu ihrer Kindheit gehört. Dass er aus demselben Dorf kommt und in derselben Straße wohnte und mit ihr sogar in derselben Schulbank saß. Beim Spielen mit Tur musste sie das Pferd sein, und Tur hat kutschiert. Und sie ist hingefallen und hat sich den Fuß gebrochen, aber das hat sich erst später herausgestellt. Tur hat sie mit der Peitsche angetrieben und behauptet, sie würde sich verstellen, weil sie nicht mehr das Pferd sein will. Die Straße war abschüssig, sagt sie, wenn man mit Tur gespielt hat, war er immer ein Sadist. Und ich erzähle vom Tausendfüßlerspiel. Die Kinder werden eingeteilt in zwei Tausendfüßler. Einer muss den anderen über eine Kreidelinie in sein Revier ziehen, weil er ihn fressen will. In jedem der zwei Tausendfüßler müssen sich die Kinder um den Bauch fassen und mit aller Macht ziehen. Man wird fast zerrissen, ich hatte Quetschungen an den Hüften und eine ausgerenkte Schulter.
    Ich bin kein Pferd, und du bist kein Tausendfüßler, sagt Bea.
    Wenn man das ist, was man spielt, wird man dafür bestraft wie nach einem Gesetz. Und aus einem Gesetz kommt man nicht heraus, auch wenn man umzieht nach Prag. Oder ins Lager, sage ich. Ja, weil Tur mitkommt, sagt Bea. Er ging auch studieren, er wollte Missionar werden und wurde es nicht. Aber in Prag ist er geblieben, er hat auf Handelumgesattelt. Weiß du, die Gesetze des kleinen Dorfes und selbst die Gesetze von Prag sind streng, sagt Bea, darum kommt man aus ihnen nicht heraus, sie sind gemacht von strengen Menschen.
    Dann baut Bea wieder die gewisse Verzögerung in den abgleitenden Blick und sagt:
    Ich liebe strenge Menschen.
    Einen, denke ich und muss mich zügeln, weil sie von dieser Strenge lebt und

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