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Atemschaukel

Titel: Atemschaukel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Mueller
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dass er Boris heißt und von zu Hause so weit weg ist wie ich, in der anderen Richtung, in einem Lager in Sibirien, in einem Strafbataillon, weil ein Nachbar ihn denunziert hat. Vielleicht habt ihr Glück, du und mein Sohn Boris, sagte sie, und dürft bald nach Hause. Sie zeigte auf den Stuhl, und ich setzte mich an die Tischecke. Sie nahm mir die Mütze vom Kopf und legte sie auf den Tisch. Sie legte einen Holzlöffel neben die Mütze. Dann ging sie zum Herd und schöpfte aus dem Topf Kartoffelsuppe in eine Blechschüssel. Es war bestimmt ein Liter Suppe. Ich löffelte, sie stand neben meiner Schulter und schaute mir zu. Die Suppe war heiß, ich schlürfte und schielte zu ihr. Und sie nickte. Ich wollte langsam essen, weil ich länger was von der Suppe haben wollte. Aber mein Hunger saß wie ein Hund vor dem Teller und fraß. Die zwei Hühner hatten ihre Füße eingezogen, hockten auf dem Bauch und schliefen. Die Suppe heizte mich bis in die Zehen. Meine Nase tropfte. Abadschij, warte, sagte die Russin und brachte aus dem Nebenzimmer ein schneeweißes Taschentuch. Sie gab es mir in die Hand und drückte meine Finger zu, als Zeichen, dass ich es behalten soll. Sie schenkte es mir. Und ich wagte nicht, mich zu schneuzen. Was da geschah, ging weit über das Geschäftliche des Hausierens und mich und sie und ein Taschentuch hinaus. Es betraf ihren Sohn. Und mir tat es gut und auch wieder nicht, sie oder ich oder wir beide waren ein Stück zu weit gegangen. Sie musste etwas tun für ihren Sohn, weil ich da war und er von zu Hause so weit weg wie ich. Mir war es peinlich, dass ich da war,dass ich nicht er war. Und dass sie das auch spürte und sich darüber hinwegsetzen musste, weil sie die Sorgen um ihn nicht mehr aushielt. Auch ich hielt es nicht mehr aus, zwei Menschen zu sein, zwei Verschleppte, das war mir zu viel, das war nicht so einfach wie auf dem Hocker zwei Hühner nebeneinander. Ich war mir doch selber schon um eine Last zu viel.
    Mein Kohletuch, grob und dreckig, hab ich nachher auf der Straße draußen als Taschentuch benutzt. Und nach dem Schneuzen um den Hals gelegt, da war es mein Halstuch. Mit den Halstuchenden hab ich mir im Gehen die Augen gewischt, oft und kurz, dass es nicht auffällt. Es hat mich zwar keiner beobachtet, ich wollte, dass es mir nicht auffällt. Ich wusste zu gut, es gibt ein inneres Gesetz, wonach man mit dem Weinen nie anfangen darf, wenn man zu viele Gründe hat. Ich redete mir ein, dass die Tränen von der Kälte kommen, und glaubte mir.
    Das schneeweiße Taschentuch aus feinstem Batist war alt, ein gutes Stück aus der Zarenzeit. Es hatte einen handgestickten Ajour-Rand, Stäbchen aus Seidenzwirn. Die Lücken zwischen den Stäbchen waren akkurat genäht und in den Ecken kleine Seidenrosetten. So etwas Schönes hatte ich lang nicht mehr gesehen. Die Schönheit der normalen Gebrauchsgegenstände war zu Hause nicht der Rede wert. Im Lager ist es gut, sie zu vergessen. In dem Taschentuch erwischte sie mich. Diese Schönheit tat mir weh. Ob dieser Sohn der alten Russin, der er und ich in einem war, je wieder nach Hause kommt. Ich fing an zu singen, um die Gedanken abzustellen. Ich sang für uns beide den Viehwaggonblues:
    Im Walde blüht der Seidelbast
    Im Graben liegt noch Schnee
    Und das du mir geschrieben hast
    Das Brieflein tut mir weh
    Der Himmel lief, Wolken mit ihren vollgestopften Kissen. Dann schaute der frühe Mond mit dem Gesicht meiner Mutter. Die Wolken schoben ihr ein Kissen unters Kinn und ein Kissen hinter die rechte Wange. Und durch die linke Wange zog das Kissen wieder hinaus. Und ich fragte den Mond: Ist meine Mutter schon so schwach. Ist sie krank. Gibt es unser Haus noch. Wohnt sie noch dort, oder ist sie auch in einem Lager. Lebt sie überhaupt noch. Weiß sie, dass ich noch lebe, oder weint sie schon um einen Toten, wenn sie an mich denkt.
    Schon den zweiten Winter war ich im Lager, wir durften keine Post nach Hause schreiben, kein Lebenszeichen. Im Russendorf standen nackte Birken, darunter die Schneedächer wie krumme Betten in Luftbaracken. In dieser frühen Dämmerung war die Haut der Birken anders bleich als am Tag und anders weiß als Schnee. Ich sah den Wind biegsam durch die Äste schwimmen. Auf dem Trampelweg neben den geflochtenen Weidenzäunen kam mir ein holzbraunes Hündchen entgegen. Es hatte einen dreieckigen Kopf, hohe Beine, stracksdünn wie Trommelstöcke. Weißer Atem flog ihm aus dem Maul, als würde es mein Taschentuch essen und dabei mit

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