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Atemschaukel

Titel: Atemschaukel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Mueller
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verwirrte ihre Instinkte. Wenn die Räder auf sie zukamen, liefen sie, aber benommen und keinesfalls um ihr Leben. Ich war mir sicher, dass Kobelian sich nie die Mühe machte, einem Erdhund auszuweichen. Und genauso sicher, dass er noch nie einen überfahren hatte, noch nie hatte einer unter den Rädern gequiekt. Dieses hohe Pfeifen hätte man auch nicht gehört, weil der Lancia zu laut war.
    Trotzdem weiß ich, wie ein Erdhund unterm Auto pfeift, weil ich es bei jeder Fahrt im Kopf höre. Kurz, herzzerreißend,drei Silben hintereinander pfeift er: Hasoweh. Wie wenn man ihn mit der Schaufel erschlägt, genauso, weil es genauso schnell geht. Und ich weiß auch, wie an dieser Stelle die Erde erschrickt und kreisrund vibriert, genauso wie ein dicker Stein ins Wasser fällt. Ich weiß auch, wie einem gleich danach die Lippe brennt, weil man draufbeißt, wenn man ihn mit einem Hieb und aller Kraft getroffen hat.
    Seitdem ich ihn liegengelassen habe, rede ich mir ein, dass man Erdhunde nicht essen kann, auch wenn man für die lebenden keine Spur von Mitleid und vor den toten kein bisschen Ekel hat. Falls ich es hätte, würden sich Mitleid und Ekel nicht um die Erdhunde scheren, sondern um mich. Es wäre nur Ekel vor meinem Zaudern aus Mitleid, nicht vor dem Erdhund.
    Aber wenn Karli und ich nächstes Mal Zeit hätten, wenn wir aussteigen könnten, bis Kobelian seine drei vier Säcke vollgestopft hätte mit jungem Gras für seine Ziegen, wenn wir so lange Zeit hätten. Ich glaube, dass Karli Halmen nicht mitmachen würde, weil ich dabei bin. Ich müsste die Zeit vergeuden und ihm gut zureden, bis es fast zu spät wäre, wenn wir nächstes Mal Zeit hätten. Vor einem Erdhund muss man sich nicht schämen, müsste ich sagen, und nicht vor der Steppe. Ich glaube, er würde sich vor sich selber genieren, jedenfalls mehr als ich mich vor mir. Und mehr als ich vor Kobelian. Ich müsste ihn wahrscheinlich fragen, wieso er Kobelian zum Maßstab macht. Ich bin überzeugt, wenn Kobelian so weit wie wir von zu Hause weg wäre, würde er Erdhunde essen, müsste ich sagen.
    Manche Tage waren nur niedergewalzte braunlackierte Grasbüschel in der Steppe, von einem Tag auf den andern. Und die Wolken waren alle geschmolzen von einem Tag aufden andern. Es blieben nur die mageren Kraniche oben im Himmel und die wilden fetten Schmeißfliegen auf der Erde. Aber es lag kein einziger toter Erdhund im Gras.
    Wo sind sie, würde ich Karli fragen. Schau doch, die Russen, warum gehen so viele zu Fuß durch die Steppe und bücken sich. Eine Zeitlang bleiben sie sitzen. Glaubst du, die ruhen sich aus, die sind alle müd. Die haben auch so ein Nest im Schädel wie wir, denselben leeren Bauch haben die wie wir. Die Russen haben auch ihre Wege. Und mehr Zeit als wir, die sind hier in der Steppe zu Hause. Kobelian hat nichts dagegen. Wieso liegt neben der Fußbremse immer eine kurzstielige Schaufel in der Kabine, das Gras rupft er doch mit der Hand. Wenn wir nicht dabei sind, steigt er nicht nur für Ziegengras aus, würde ich zu Karli sagen und bräuchte nicht zu lügen, weil ich die Wahrheit gar nicht weiß. Selbst wenn ich sie wüsste, wär es nur die eine Wahrheit, und das Gegenteil wäre die andere. Auch du und ich sind mit Kobelian anders als ohne ihn, würde ich sagen. Auch ich bin anders ohne dich. Nur du bildest dir ein, dass du nie anders bist. Beim Brotstehlen warst du doch anders und ich war anders und alle anderen auch – aber das würde ich niemals sagen, weil es ein Vorwurf wäre.
    Pelz stinkt, wenn er verbrennt. Ich häute das Fleisch, mach du schnell das Feuer, würde ich sagen, wenn Karli Halmen zuletzt doch mitmachen würde.
    Karli Halmen und ich sind immer wieder mit Kobelian quer über die Steppe gefahren. Auch eine Woche danach standen wir auf dem Lancia oben. Die Luft war blass, das Gras orange, die Sonne drehte die Steppe in den Spätherbst. Die überfahrenen Erdhunde waren vom Nachtreif gezuckert. Wir fuhren an einem alten Mann vorbei. Er stand imStaubwirbel und winkte uns mit einer Schaufel. Sie hatte einen kurzen Stiel. Auf seiner Schulter hing ein Sack, der war nur viertelvoll und schwer. Karli sagte: Der holt kein Gras. Wenn wir nächstes Mal Zeit hätten, wenn wir aussteigen könnten. Kobelian hätte nichts dagegen, aber du willst doch zartfühlend sein, du würdest nie mitmachen.
    Man sagt nicht umsonst blinder Hunger. Karli Halmen und ich wussten nicht viel voneinander. Wir waren zu viel zusammen. Und Kobelian wusste

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