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Atemschaukel

Titel: Atemschaukel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herta Mueller
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den Baracken auf dem Lagerkorso weiche ich ihm aus, bevorzuge eine Entfernung, aus der man nicht reden kann. Er stellt die glänzenden Schuhe wie zwei Lacktäschchen von hoch oben auf den Gehweg, als falle die leere Zeit durch die Sohlen aus ihm heraus. Er merkt sich alles. Man sagt, auch was er vergisst, wird ein Befehl.
    In der Rasierstube ist Tur Prikulitsch mir überlegen. Er sagt, was er will, nichts ist riskant. Es ist sogar besser, wenn er uns verletzt. Er weiß, dass er uns kleinhalten muss, damit es so bleibt. Er streckt den Hals und spricht immer nach unten. Er hat den ganzen Tag Zeit, um sich zu gefallen. Mirgefällt er auch. Er ist athletisch gebaut, hat messinggelbe Augen mit einem öligen Blick, kleine anliegende Ohren wie zwei Broschen, ein Kinn aus Porzellan, die Nasenflügel rosig wie Tabakblüten, sein Hals wie Kerzenwachs. Dass er sich nie dreckig macht, ist sein Glück. Und sein Glück macht ihn schöner als er es verdient. Wer den Hungerengel nicht kennt, kann auf dem Appellplatz kommandieren, auf dem Lagerkorso stelzen, in der Rasierstube schleichend lächeln. Aber mitreden kann er nicht. Ich weiß mehr über Tur Prikulitsch, als ihm lieb ist, weil ich Bea Zakel gut kenne. Sie ist seine Geliebte.
    Die russischen Befehle hörten sich an wie der Name des Lagerkommandanten Towarischtsch Schischtwanjonow, ein Knirschen und Krächzen aus Ch, Sch, Tsch, Schtsch. Den Inhalt der Kommandos verstanden wir sowieso nicht, aber die Verachtung. An Verachtung gewöhnt man sich. Mit der Zeit klangen die Befehle nur noch wie ständiges Räuspern, Husten, Niesen, Schneuzen, Spucken – wie Schleimauswerfen. Die Trudi Pelikan sagte: Das Russische ist eine verkühlte Sprache.
    Wenn alle anderen sich noch im Stillstehen beim Abendappell quälten, hatten die Schichtarbeiter, die vom Appell ausgenommen waren, schon ihr Feuerchen im Lagerwinkel hinterm Brunnen angezündet. Schon den Kochtopf drauf mit Meldekraut oder anderen seltenen Dingen, die einen Deckel brauchten, damit man sie nicht sieht. Rüben, Kartoffeln, sogar Hirse, wenn sich ein schlaues Tauschgeschäft gelohnt hatte – zehn Rübchen für eine Jacke, drei Maß Hirse für einen Pullover, ein halbes Maß Zucker oder Salz für ein Paar Schafwollsocken.
    Für ein Extraessen brauchte der Topf unbedingt einen Deckel.Deckel gab es keine. Vielleicht ein Stück Blech und das vielleicht auch nur in Gedanken. Egal wie, man hat den Deckel für den Topf jedesmal aus irgendwas erfunden. Und man sagte stur: Da muss ein Deckel drauf. Obwohl es nie ein Deckel war, nur die Redensart vom Deckel war noch da. Vielleicht deckelt sich die Erinnerung, wenn man nicht mehr weiß, woraus der Deckel war und wenn es sowohl nie als auch immer, egal aus was, einen Deckel gab.
    Jedenfalls flackerten im Lagerwinkel hinterm Brunnen im Abendwerden an die fünfzehn bis zwanzig Feuerchen zwischen zwei Ziegelsteinen. Alle anderen hatten nichts zum privaten Kochen neben dem Kantinenfraß. Die Kohle machte Rauch, die Topfbesitzer hielten Wache mit dem Löffel in der Hand. An Kohle gab es keinen Mangel. Die Töpfe waren aus der Kantine, miserables Essgeschirr der Lokalindustrie. Graubraun emaillierte Blechgefäße voller Blattern und Dellen. Auf dem Feuer im Hof waren es Töpfe, auf dem Kantinentisch Teller. Wenn einer sein Essen fertiggekocht hatte, warteten andere Topfbesitzer darauf, das Feuer zu übernehmen.
    Wenn ich nichts zum Kochen hatte, schlängelte mir der Rauch durch den Mund. Ich zog die Zunge einwärts und kaute leer. Ich aß Speichel mit Abendrauch und dachte an Bratwurst. Wenn ich nichts zu kochen hatte, ging ich in die Nähe der Töpfe und tat so, als würde ich mir vorm Schlafengehen am Brunnen die Zähne putzen. Doch bevor ich die Zahnbürste in den Mund steckte, aß ich zweimal. Mit dem Augenhunger aß ich das gelbe Feuer und mit dem Gaumenhunger den Rauch. Während ich aß, war um mich her alles still, und vom Fabrikgelände drüben fiel durch die Dämmerung das Rumpeln der Koksbatterien. Ich wurdelangsamer, je schneller ich vom Brunnen weg wollte. Ich musste mich losreißen von den Feuerchen. Im Rumpeln der Koksbatterien hörte ich das Magenknurren, das ganze Abendpanorama hatte Hunger. Der Himmel senkte sich schwarz auf die Erde, und ich wankte in die Baracke ins gelbe Dienstlicht der Glühbirne.
    Das Zähneputzen ging auch ohne Zahnpasta. Die von zu Hause mitgebrachte war längst schon alle. Und Salz war viel zu wertvoll, das hätte man nicht ausgespuckt, das war ein

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