Atevi 1 - Fremdling
seiner Gruppe nicht gelungen war. Er hatte mehr Glück gehabt als Giri, der arme, anständige Kerl, mehr Glück als sein Retter, der nicht lange gefackelt und ihn spontan aus der Schußlinie gezerrt hatte. Vielleicht war das der springende Punkt, der Beweggrund, der keinen Spielraum ließ. Liebe oder Pflichtgefühl, wie immer man es nennen mochte. Es war, was die Mecheiti veranlaßte, stur ihrem Mecheit’-Aiji zu folgen, komme, was wolle.
Man’chi. Die Wörterbücher übersetzten diesen Begriff mit ›Dienstpflicht‹ oder ›Schuldigkeit‹, was aber nur annähernd zutraf. Man’chi bedeutete viel mehr; es bezeichnete insbesondere jenes zwingende Motiv, das auf den Zusammenhalt der Gemeinschaft gerichtet war.
Es hieß, daß Aijiin kein Man’chi hatten, und das bedeutete ein Leben in kosmischer Einsamkeit, absoluter Freiheit. Ilisidi. Tabini.
Tabini konnte tun und lassen, was er wollte, ohne Rücksicht auf andere, niemandem verpflichtet, schon gar nicht seinem Paidhi. Und dennoch, Bren mochte dieses Monstrum.
Genauso wie Banichi.
Daß er noch lebte, daran zweifelte Bren keinen Augenblick lang. Es würde niemand wagen, sich mit ihm oder Jago anzulegen. Jede Wette, daß die beiden wohlauf waren. Um Tabini brauchten sie sich jetzt nicht zu sorgen.
Allenfalls um ihn, den Paidhi.
Sie würden nach ihm suchen.
Die Augen wurden ihm feucht. Tränen quollen daraus hervor; eine rollte auf den Nasenflügel, eine andere tropfte von der Wange ins Gras. Atevi weinten nicht. Die Natur hatte ihnen diese Schmach erspart.
Aber manche von ihnen, wie das alte Ehepaar, das von den Enkeln schwärmte, verrieten Regungen, die zwar nicht als Liebe zu bezeichnen, aber ebenso stark und wirksam waren und eine Qualität hatten, die zu ergründen noch kein Paidhi so nahegekommen war wie er.
Darauf zu warten, daß Atevi Liebesgefühle empfanden, war sinnlos. Als Paidhi mußte er davon abzusehen lernen und vielmehr versuchen, das Man’chi nachzuvollziehen.
Und er dachte: Versuche nachzuempfinden, warum dich Cenedi geschlagen hat, als du Banichi zu Hilfe geeilt bist; es ist doch eigentlich gar nicht so schwer zu erraten, was Cenedi bewegte – natürlich, sein Man’chi. Was sonst? Es war die alte Frage: Was retten, wenn das Haus in Flammen steht?
Er, Bren, hatte sich für Banichi entschieden, und das in Gemeinschaft mit Ilisidi.
Tabinis Leute hatten sich ihr untergeordnet.
Aber würde Jago deshalb ihr Man’chi brechen?
Niemals.
Ich werde Sie nie hintergehen, Bren-ji.
Sie halten jetzt den Mund, Nadi Bren.
Nicht an Jago zweifeln, auch wenn du sie nicht verstehst. Sie steht an deiner Seite, so wie Banichi. Ein gutes Gefühl, egal wie man es nennen mag.
Es war schon hell. Auf der Mauer schimmerte mattes Licht. Laufschritte. Da rief jemand. Bren versuchte sich zu bewegen. Der Hals war steif. Er schaffte es nicht, den Arm, auf dem er lag, unter sich wegzuziehen. Auch die Beine gehorchten nicht. Er hatte geschlafen, zwischen aufgetürmten Fässern und Mauerresten.
»Stehenbleiben!« hörte er es rufen.
Er wälzte sich auf den Bauch, wischte das Gras vorm Gesicht beiseite und spähte nach draußen, sah aber nur eine Reihe von Gebäuden am Rand der Piste. Moderne Machart, billig, aus vorfabrizierten Betonteilen zusammengepappt. Zwei Schuppen, daneben ein Windsack. Stromleitung – wahrscheinlich für die Positionslichter, vermutete er. Außerdem war da eine Wartehalle oder eine Werkstatt oder dergleichen. Um den schmerzenden Rücken zu entlasten, legte er sich wieder flach auf den Boden.
Der linke Arm tat verdammt weh. Die Beine waren nicht weniger steif. Er konnte das eine kaum strecken und wußte sich nicht zu bewegen.
Schüsse. Mehrmals hintereinander.
Es gab Widerstand. Aus seiner Gruppe lebten also noch welche. Er lauschte in die Stille, die nun einsetzte, und dachte mit Schrecken daran, daß womöglich in diesem Augenblick Banichi und Jago unter Beschuß lagen, während er, am ganzen Leibe zitternd, in seinem Versteck festsaß und nichts unternehmen konnte.
Er fühlte sich… ja, wie? Schuldig daran, daß Atevi seinetwegen sterben mußten, daß andere bereit waren zu töten wegen eines dummen Mißverständnisses, wegen dieser Vorgänge am Himmel, die im Grunde nichts zu tun hatten mit den Atevi.
Da schrie jemand. Unverständliches. Auf die Ellbogen gestützt, richtete er sich wieder auf, plättete das Gras mit dem Handrücken und spähte hinaus.
Jetzt sah er sie: Cenedi und Ilisidi, die schwer humpelnd an Cenedis Arm
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