Atlantis
dieser Zeit, diesmal war er in eine andere Richtung geflohen … aber in irgendeiner Welt.
Bobby schaufelte die Blütenblätter - jedes eine winzige, seidene Münze - in seine gewölbten Hände und hob sie dann wie eine Handvoll Blut an sein Gesicht. Er hätte in ihrem süßen Duft ertrinken können. Ted war in ihnen, Ted, klar wie der helle Tag, mit seinem komischen gebeugten Gang, seinem feinen weißen Babyhaar und den gelben Nikotinflecken, die in die ersten beiden Finger seiner rechten Hand tätowiert waren. Ted mit seinen Henkeltüten.
Wie an jenem Tag, als er Harry Doolin dafür bestraft hatte, dass er Carol etwas zuleide getan hatte, hörte er Teds Stimme. Damals war es weitgehend Einbildung gewesen. Diesmal jedoch glaubte Bobby, die Stimme sei real; sie war in den Rosenblättern eingebettet und für ihn darin hinterlassen worden.
Immer mit der Ruhe, Bobby. Genug ist genug, also immer mit der Ruhe. Reiß dich zusammen!
Er saß lange Zeit an seinem Schreibtisch, die Rosenblätter ans Gesicht gedrückt. Schließlich legte er sie in den kleinen Umschlag zurück, sorgsam darauf bedacht, kein einziges zu verlieren, und verschloss die zerrissene Klappe wieder.
Er ist frei. Er ist … irgendwo. Und er hat es nicht vergessen.
»Er hat mich nicht vergessen«, sagte Bobby. »Er hat mich nicht vergessen.«
Er stand auf, ging in die Küche und setzte den Teekessel auf. Dann ging er ins Zimmer seiner Mutter. Sie lag in ihrem Unterkleid auf dem Bett, die Füße hochgelegt, und er konnte die ersten Spuren des Alters in ihrem Gesicht sehen. Sie wandte sich von ihm ab, als er sich neben sie setzte, ein Junge, der jetzt fast so groß war wie ein Mann, aber sie ließ zu, dass er ihre Hand nahm. Er hielt sie und streichelte sie und wartete auf das Pfeifen des Kessels. Nach einer Weile drehte sie sich um und sah ihn an. »O Bobby«, sagte sie. »Wir haben alles so fürchterlich vermasselt, du und ich. Was sollen wir nur tun?«
»Unser Bestes«, sagte er. Er streichelte weiterhin ihre Hand, hob sie an seine Lippen und küsste sie auf die Handfläche, dort, wo ihre Lebenslinie und ihre Herzlinie sich kurz berührten, bevor sie sich wieder trennten. »Wir werden unser Bestes tun.«
HERZEN IN ATLANTIS
1966
Wir mussten so lachen,
dass wir gar
nicht mehr aufhören konnten.
1
Als ich 1966 an die University of Maine kam, klebte noch ein zerkratzter und verblichener, aber gut lesbarer Goldwater-Aufkleber (AuH 2 O- 4 -USA) an dem alten Kombi, den ich von meinem Bruder geerbt hatte. Als ich die Universität 1970 verließ, hatte ich keinen Wagen mehr, dafür aber einen Bart, schulterlange Haare und einen Rucksack mit einem Aufkleber, auf dem RICHARD NIXON IST EIN KRIEGSVERBRECHER stand. Der Text auf dem Button am Kragen meiner Jeansjacke lautete I AIN’T NO FORTUNATE SON, ich habe keine reichen Eltern, die mich vor dem Kriegsdienst bewahren. Das College ist wohl immer eine Zeit der Veränderung - die letzten starken Nachwehen der Kindheit -, aber ich bezweifle, dass es vorher schon jemals derartig gewaltige Veränderungen gegeben hat wie jene, mit denen die Studenten konfrontiert waren, die in den späten Sechzigerjahren auf den Campus kamen.
Die meisten von uns sprechen heute nicht mehr über diese Jahre, nicht weil wir uns nicht an sie erinnern würden, sondern weil die Sprache, die wir damals gesprochen haben, verloren gegangen ist. Wenn ich versuche, über die Sechzigerjahre zu sprechen - wenn ich auch nur versuche, an sie zu denken -, dann überkommen mich Schrecken und Heiterkeit. Ich sehe Schlaghosen und Earth Shoes mit ihrem
abgesenkten Absatz. Ich rieche Pot und Patschuli, Räucherstäbchen und Pfefferminze. Und ich höre Donovan Leitch mit seinem süßen, etwas blöden Song über den Kontinent Atlantis, einen Text, der mir in den stillen Stunden der Nacht, wenn ich nicht schlafen kann, immer noch tiefgründig erscheint. Je älter ich werde, desto schwerer fällt es mir, über die Blödheit dieses Liedes hinwegzusehen und mich an seine Süße zu halten. Ich muss mir ins Gedächtnis rufen, dass wir damals kleiner waren, so klein, dass wir unser unbeschwertes Leben unter den Pilzen verbringen konnten und die ganze Zeit daran glaubten, sie seien Bäume und würden uns vor dem schützenden Himmel schützen. Ich weiß, das ergibt im Grunde keinen Sinn, aber ich kann es nicht besser ausdrücken: Hail Atlantis .
2
Am Ende meines letzten Studienjahres wohnte ich nicht auf dem Campus, sondern in LSD Acres, den baufälligen
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