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Atlantis

Titel: Atlantis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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mit sich herumtrug. Ich wollte nicht glauben, dass ein Wohnheimaufseher versuchen würde, bei Garretsen, dem Dekan für männliche Studenten, für ein paar harmlose Tupfer Rasiercreme eine disziplinarische Bewährungsstrafe zu erwirken … aber hier war die Rede von Dearie, einem aufgeblasenen Pedanten, der bisher auf wöchentlichen Zimmerinspektionen bestanden hatte und einen kleinen Hocker mit sich herumtrug, damit er die obersten Fächer der zweiunddreißig Schränke kontrollieren konnte, was er offenbar als Teil seiner Aufgabe betrachtete. Auf die Idee war er wahrscheinlich im Reserve Officers’ Training Corps gekommen, einem militärischen Zusatzkurs, den er so innig liebte wie Nate Cindy und Rinty. Außerdem hatte er Studenten gemeldet - diese Praxis war zwar außerhalb des ROTC-Programms weitgehend in Vergessenheit geraten, aber immer
noch offizieller Bestandteil der Schulpolitik -, die ihren häuslichen Pflichten nicht genügend nachkamen. Wenn man oft genug gemeldet wurde, bekam man eine Diszi. Theoretisch konnte man von der Uni fliegen, die Zurückstellung vom Wehrdienst einbüßen, eingezogen werden und als Kugelfang in Vietnam enden, weil man mehrmals vergessen hatte, den Mülleimer auszuleeren oder unter dem Bett zu fegen.
    David Dearborn finanzierte sein Studium mithilfe von Darlehen und Stipendien, und sein Aufseherjob unterschied sich - ebenfalls theoretisch - nicht von meinem Geschirrspülerjob. Aber Dearie war da anderer Ansicht. Dearie hielt sich für etwas Besseres, für einen der wenigen, der Stolzen, der Tapferen, als wäre er bei den Marines. Seine Familie stammte von der Küste, müssen Sie wissen; aus Falmouth, wo 1966 noch mehr als fünfzig strenge, von den Puritanern vererbte Moralgesetze gültig waren. Irgendetwas war seiner Familie zugestoßen, etwas, was dem gesellschaftlichen Fall einer Familie in einem alten Bühnenmelodram gleichkam, aber Dearie kleidete sich immer noch wie der Zögling einer Privatschule in Falmouth; er trug im Unterricht einen Blazer und am Sonntag einen Anzug. Niemand hätte sich stärker von Ronnie Malenfant mit seiner Gossensprache, seinen Vorurteilen und seinem Geschick im Umgang mit Zahlen unterscheiden können. Wenn sie auf dem Flur aneinander vorbeigingen, sah man förmlich, wie Dearie vor Ronnie zurückschreckte, dessen rote Haare sich über einem Gesicht wellten, das vor sich selbst wegzulaufen schien, von der vorgewölbten Stirn bis zu dem fast nicht vorhandenen Kinn. Dazwischen lagen Ronnies ewig von Augensekret verklebte Augen und seine permanent tropfende Nase … ganz zu
schweigen von Lippen, die so rot waren, als hätte er immer irgendwas Billiges, Grelles vom Grabbeltisch aufgelegt.
    Dearie mochte Ronnie nicht, aber Ronnie war nicht der Einzige, der seine Missbilligung ertragen musste; Dearie schien keinen der Jungen zu mögen, die er beaufsichtigte. Wir mochten ihn auch nicht, und Ronnie hasste ihn geradezu. In Skip Kirks Abneigung lag eine Spur Verachtung. Er war mit Dearie beim ROTC (jedenfalls bis November, dann gab Skip den Kurs auf), und er sagte, Dearie sei in allem schlecht, außer im Arschkriechen. Skip, der in seinem Abschlussjahr an der Highschool knapp an einer Nominierung fürs Baseballteam des Staates vorbeigeschrammt war, hatte noch etwas Spezielles an unserem Etagenaufseher auszusetzen - Dearie, sagte Skip, hängte sich nicht rein. Für Skip war das die schlimmste Sünde. Man musste sich reinhängen. Selbst wenn man nichts weiter tat als die Schweine füttern, man musste sich verdammt noch mal reinhängen.
    Ich mochte Dearie ebenso wenig wie jeder andere. Ich kann mich mit einer ganzen Menge menschlicher Schwächen abfinden, aber aufgeblasene Pedanten verabscheue ich. Dennoch verspürte ich auch ein bisschen Mitleid mit ihm. Erstens hatte er keinen Humor, und ich glaube, das ist ein Defekt, der einen genauso verkrüppelt wie das, was mit Stoke Jones’ Unterkörper schiefgelaufen war. Und zweitens glaube ich, dass Dearie sich selbst nicht besonders gut leiden konnte.
    »Eine Diszi ist kein Thema, wenn er den Missetäter nicht findet«, erklärte ich Nate. »Und selbst wenn er ihn findet, dann kann mir keiner erzählen, dass Garretsen sich bereitfinden würde, jemandem eine zu verpassen, weil er dem Aufseher die Tür eingeschmiert hat.« Andererseits, Dearie
hatte eindeutig Überzeugungskraft. Schon möglich, dass er seine gesellschaftliche Stellung eingebüßt hatte, aber er hatte jenes gewisse Etwas, das ihn nach wie vor als

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