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Atlantis

Titel: Atlantis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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verkrochen.
    »Nein«, sagte ich, »hattest du nicht. Ich war durch.«
    »Niemand macht bei einem Handkartenspiel einen Durchmarsch«, sagte Ronnie und lehnte sich noch weiter zurück. Er kratzte sich an der Wange und rasierte dabei die Spitzen einiger Pickel ab. Dünne Fäden gelbweißer Flüssigkeit sickerten heraus. »Jedenfalls nicht an meinem Tisch. Ich hatte dich in Kreuz gestoppt.«
    »Du warst blank in Kreuz, außer du hast beim ersten Stich nicht bedient. Du hast das Pik-Ass auf Lennies Schwuchtel gelegt. Und in Herz hatte ich sämtliche Bilder.«
    Ronnies Lächeln erlosch für einen Moment und erstrahlte dann von Neuem. Er zeigte mit einer Hand auf den Boden, von dem sämtliche heruntergefallenen Karten aufgehoben worden waren (der Inhalt der umgeworfenen Aschenbecher lag noch da; die meisten von uns waren in einem Zuhause aufgewachsen, wo die Mütter solche Schweinereien wegmachten). »Alle hohen Herzen, hm? Schade, dass wir’s nicht mehr nachprüfen können.«
    »Ja, schade.« Ich setzte mich wieder in Bewegung.
    »Du wirst bei den Matchpunkten zurückfallen!«, rief er mir nach. »Das ist dir doch klar, oder?«
    »Du kannst meine haben, Ronnie. Ich will sie nicht mehr.«
    Ich spielte auf dem College nie wieder Hearts. Viele Jahre später brachte ich meinen Kindern das Spiel bei, und sie waren sofort in ihrem Element. Jeden August veranstalten
wir in unserem Sommerhaus ein Turnier. Es gibt keine Matchpunkte, aber eine Trophäe, einen richtigen Pokal von Atlantic Awards. Ich habe ihn einmal gewonnen und auf meinen Schreibtisch gestellt, wo ich ihn sehen konnte. In der Entscheidungsrunde habe ich zweimal einen Durchmarsch gemacht, aber nie bei einem Handkartenspiel. Wie mein alter College-Kumpel Ronnie Malenfant mal gesagt hat: Niemand macht bei einem Handkartenspiel einen Durchmarsch. Da könnte man ebenso gut erwarten, dass Atlantis mit wehenden Palmen aus dem Ozean emporsteigt.

38
    Um acht Uhr an diesem Abend saß Skip Kirk an meinem Schreibtisch und war in sein Anthropologielehrbuch vertieft. Die Hände hatte er in die Haare vergraben, als hätte er schlimme Kopfschmerzen. Nate saß an seinem Schreibtisch und schrieb eine Hausarbeit in Botanik. Ich lag ausgestreckt auf meinem Bett und rang mit meiner alten Freundin, der Geologie. Vom Plattenspieler sang Bob Dylan über die seltsame Urenkelin von Meister Proper: »Well, the funniest woman I ever seen was the great-granddaughter of Mr. Clean.«
    Es klopfte zweimal laut an die Tür: pock-pock. So muss es sich 1938 und 1939 angehört haben, wenn die Gestapo an die Türen der Juden klopfte. »Etagenversammlung!«, rief Dearie. »Etagenversammlung im Freizeitraum um neun Uhr! Erscheinen ist Pflicht!«
    »O Gott«, sagte ich. »Verbrennt die Geheimpapiere, und esst das Funkgerät auf.«

    Nate drehte Dylan leiser, und wir hörten, wie Dearie den Flur entlangging, sein Pock-pock an jede Tür klopfte und lauthals das Etagentreffen im Freizeitraum ankündigte. Die meisten Zimmer waren wahrscheinlich leer, aber das war kein Problem; er würde die Bewohner im Aufenthaltsraum finden, wo sie die Schlampe jagten.
    Skip sah mich an. »Hab ich dir doch gesagt.«

39
    Die Wohnheime in unserem Komplex waren alle zur gleichen Zeit erbaut worden, und jedes verfügte zusätzlich zu den Aufenthaltsräumen in der Mitte jeder Etage über einen großen Gemeinschaftsbereich im Keller. Dort gab es eine Fernsehnische, die sich an den Wochenenden hauptsächlich bei Sportereignissen und unter der Woche bei einer Vampir-Seifenoper namens Dark Shadows füllte; eine Kantinenecke mit einem halben Dutzend Automaten; einen Tischtennistisch und etliche Schach- und Damebretter. Es gab auch einen Versammlungsbereich mit einem Rednerpult vor mehreren Reihen hölzerner Klappstühle. Dort hatten wir am Anfang des Studienjahres eine Etagenversammlung abgehalten, bei der Dearie die Hausordnung des Wohnheims und die unangenehmen Folgen nicht zufriedenstellend verlaufener Zimmerinspektionen erläutert hatte. Ich muss sagen, diese Zimmerinspektionen waren für Dearie das Größte. Die und das ROTC, natürlich.
    Er stand hinter dem kleinen hölzernen Rednerpult, auf das er eine dünne Aktenmappe gelegt hatte, die vermutlich seine Notizen enthielt. Er trug immer noch seine feuchten
und schmutzigen ROTC-Klamotten. Nachdem er den ganzen Tag die Schaufel geschwungen und Sand gestreut hatte, wirkte er nun erschöpft, aber auch aufgedreht - »angetörnt« würden wir ein oder zwei Jahre später

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