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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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andere Bewohner Paraguays, keinen Tropfen Conquistadorenblut.
    Dieser Indio habe am großen Itaipú-Staudamm mitgebaut und sich dann mit dem in den Jahren der Schwerstarbeit ersparten Geld auf dem Nachbargrundstück selbständig gemacht – allerdings, und das wußte am Ende jeder in der Flußgegend, war die Tankstelle nach und nach zu einem Umschlagplatz für Schmuggelware geworden, die im Gewirr der Ladenstraßen von Ciudad del Este gehandelt und mit Kanus und Schlauchbooten über den Paraná, die fließende Grenze zu Brasilien, geschafft wurde – billige Elektronik, Raubkopien von Musik und Filmen, gefälschte Markenartikel mit berühmten, in Kellern und Garagen nachgestickten, nachgenähten, nachgestanzten, nachgemalten Namen. Aber mit der Schaffung des
Mercado Común del Sur
waren Zollschranke um Zollschranke gefallen und weite Felder des Schmuggels ausgetrocknet.
    Der Tankstellenbesitzer, hieß es, habe sich schließlich auf den einträglicheren, aber weitaus gefährlicheren Kokainschmuggel verlegt und sei darin dann auch verschollen, vielleicht sogar umgekommen. Eines Tages standen jedenfalls zwei Streifenwagen vor der geschlossenen Tankstelle. Aber der Vogel, hatte die Pensionsinhaberin gesagt, der Vogel war bereits ausgeflogen.
    In den Wochen danach warteten noch gelegentlich Autos vergeblich vor den beiden Zapfsäulen. Dann kamen die Tage, in denen die Fenster eingeschlagen und die Regale mit Motoröl, Reinigungsmitteln, Scheibenwischerblättern, Straßenkarten und anderem Zubehör geplündert wurden. Schließlich verschwanden auch die leeren Regale, verschwanden der Tisch, die Stühle, die nackten Glühbirnen – und Lianen und Würgefeigen begannen ungehindert dahin und dorthin zu kriechen, wo jetzt, am Ende aller Jagdübungen der Katze, der nasse Vogel unter dem Flugdach lag, als habe auch er in einer beinah vergessenen geschäftlichen Blütezeit zum Inventar der Tankstelle gehört und erst in einem langsamen Niedergang sein jetziges Aussehen angenommen – nicht anders als die zerschlagenen Fenster, die aufgebrochene Tür oder das Dickicht zerrissener, von blütenlosem Gestrüpp überwucherter Öl- und Benzinleitungen.
    Die Katze, so struppig und dürr sie auch war und so groß ihr Hunger sein mochte, hatte ihre Jagdbeute aus unerfindlichen Gründen nicht gefressen, sondern sie irgendwann, zum letzten Mal und eines langen Spiels überdrüssig, hochgeschleudert und fallen- und dann einfach zurückgelassen, wo sie aufgeschlagen war – auf einem der Kreise aus blauen Fliesen, die wie Brunnenfassungen um schwarze Löcher lagen, über denen einmal Zapfsäulen gestanden hatten.
    Die Ellbogen auf ein Fensterbrett meines Pensionszimmers gestützt und das Fernglas vor Augen, sah ich das leblose Opfer in seinem dunklen, nassen Federkleid, in dem sich in den feuchtheißen, schwachen Windstößen dieses Maimorgens nur noch eine einzige Daune manchmal aufrichtete.
    Eine Prozession Blattschneiderameisen rannte in wenigen Zentimetern Entfernung ungerührt an dem kleinen Kadaver vorüber. Die Ameisenstraße hatte wohl schon lange vor dem letzten Sturz des Vogels an der Aufschlagstelle vorbei zu einem irgendwo in der Tankstellenwildnis verborgenen, labyrinthischen Bau geführt. Denn die Insekten zogen, sorgfältig zersägte Segmente von Blättern über den Köpfen haltend und ohne den gefallenen Vogel auch nur zu beachten, wie eine mit hellgrünen Segeln beschlagene, winzige Flotte unbeirrbar und unaufhaltsam dahin.

Der Schreiber
    Ich sah das Spiegelbild eines Gletschers auf dem lichtgrünen Wasser eines Bergsees in der osttibetischen Region Kham. Wenn ein schwacher, von einem Geruch nach Harz und Moos durchdrungener Wind über Felswände und weglose Steilhänge strich und auf dem See Schattenstriche aufraspelte, zerrann das Bild, um sich nach dem Abflauen der Brise aus einem Relief zierlicher Wellen von neuem zusammenzufügen. Nomaden aus den umliegenden Hochtälern des Tsola-Gebirges nannten diesen See
Yilhun Lhatso
und beschrieben, nach der Bedeutung dieses Namens gefragt, einen See … der heilig ist und von einer solchen Schönheit, daß jeder Mensch, der einmal an seinem Ufer gestanden hat, ihn nur mit Wehmut wieder verläßt.
    Die fünf- und sechstausend Meter hohen Bergkämme, die den Yilhun Lhatso einfaßten, machten den Himmel über dem Wasser kaum kleiner – lag doch auch das sandige oder von Kieseln bedeckte Ufer, an dem wir unser Lager aufgeschlagen hatten, mehr als viertausend Meter über dem

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