Atlas eines ängstlichen Mannes
zurückgekehrt, weil ihre Tochter, wenn schon ohne Vater, der hatte sich davongemacht, dann wenigstens bei ihrem Volk aufwachsen sollte – kannte die Geschichte der Rapa Nui nicht nur aus dem Lesebuch ihrer Tochter, sondern auch aus einem Hollywoodfilm, den sie in Santiago wohl ein dutzendmal gesehen hatte.
Natürlich konnte man über Filme verschiedener Meinung sein, aber die wahrscheinlichste von den vielen Geschichten über die Rapa Nui blieb doch jene, daß im Verlauf dieser idiotischen Ritualkämpfe um die Macht, bei denen Frauen nicht einmal als Zuseherinnen geduldet waren, auch die Moais nach und nach zu Herrschafts- und Machtsymbolen verkamen, die, wie eben alle Symbole in Männerwelten, groß, möglichst groß, immer größer werden mußten, immer noch größer!
Und so seien der wachsenden Größe von Steinkolossen eben alle Kraft und Energie geopfert worden, die Palmenwälder, die Menschen, aller Reichtum des Landes, bis die Insel eine Wüste war, in der es keine Bäume mehr gab, kaum noch Tiere, keine Felder und die fluguntauglichen Vogelmänner endlich erkannten, daß man Steine nicht essen konnte.
Wollte ich den Steinbruch sehen, aus dem fast alle Moais geschlagen und dann in endlosen, mühseligen Prozessionen auf rollenden Palmstämmen über die ganze Insel zu ihren Plattformen geschleppt worden waren? Die Taxifahrerin hatte angeboten, mich gegen einen geringen Aufpreis auch noch dorthin zu bringen – nach Rano Raraku.
Übereinander und nebeneinander sah ich dort kaum eine halbe Stunde später bis zu zwanzig Meter große, mit dem Fels noch verwachsene Kolosse, für deren Vollendung die schwindenden Kräfte der Rapa Nui nicht mehr gereicht hatten. Auch entlang der von hohem Gras überwucherten Prozessionsstraßen standen und lagen Moais, als seien sie von ihren Schöpfern an einem einzigen Tag für immer verlassen und so von Symbolen der Macht zu bloßen Meilensteinen des Verschwindens geworden.
Nachdem diese Vogelmenschen sich gegenseitig nicht mehr mit immer größeren Steinmonstern übertrumpfen konnten, hatte die Fahrerin gesagt, habe man eben begonnen, die Monster des Nachbarclans zu stürzen und ihnen die Köpfe abzuschlagen, erschlug irgendwann auch den Nachbarn, ja fraß ihn in manchen Fällen sogar, bis man selber erschlagen und gefressen wurde. Und der Rest des Volkes, der am Ende auch zum Töten zu schwach war, wurde, nachdem die Schiffe einer plötzlich aus dem Ozean aufgetauchten, übermächtigen Welt vor Rapa Nui Anker geworfen hatten, von Sklavenhändlern verschleppt, von bis dahin unbekannten Krankheiten befallen und vom Ungeziefer, das mit den Eroberern und Entdeckern an Land kroch, seines Saatguts beraubt oder auf der eigenen Insel in Lagern gefangengesetzt, weil europäische Schafzüchter das freie Land für ihre Herden brauchten.
Daß auf Rapa Nui nun wieder fast viertausend Menschen lebten – die Hälfte von ihnen allerdings eingewanderte Chilenen – sei am Ende der vorläufig letzten, der chilenischen Besetzung der Insel zu verdanken, und in der Neuzeit sogar dem General Augusto Pinochet, ja!, dem Diktator, dem Bluthund an der Leine der USA – ausgerechnet der habe das Volk der Rapa Nui geliebt und die Insel sogar zweimal besucht, habe eine Flugpiste und Straßen bauen lassen und vor allem dafür gesorgt, daß erstmals ein Rapa Nui zum Gouverneur der Insel werden konnte. Es gäbe genug Leute hier, die dem General immer noch dankbar waren.
Es war später Nachmittag. Ich konnte die Entfernung vom Gehöft unter dem Neonkreuz bis Anakena auf meiner Karte abschätzen, nicht aber, wie lange ich für die weglose, immer wieder von Klüften und Gräben zerrissene Strecke brauchen würde. Vor Einbruch der Dämmerung, hatte die Taxifahrerin gesagt.
Auf den Weiden war es still geworden. Das Vieh hatte aufgehört zu brüllen. Wie in das Schicksal des Verdurstens ergeben, trotteten Kühe und Pferde wieder über das wasserlose Land.
Ich spielte einige Augenblicke lang mit dem Gedanken, einen steinernen Schnabel, Fragment einer Vogelmanndarstellung, aus der Trockensteinmauer zu lösen und mitzunehmen, hier waren diese Reste ja doch nur Baumaterial. Aber dann dachte ich an den unversehrten, mit allen Symbolen des Vogelmannkultes geschmückten Moai, der in einem archäologischen Raubzug erbeutet und ins Britische Museum nach London verschleppt worden war, wandte der Mauer den Rücken zu und machte mich auf den Weg.
Vom Neonkreuz war nichts mehr zu sehen, aber die Bucht von
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