Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
Vom Netzwerk:
Anakena noch weit, als ich auf die Basaltfundamente von drei längst verfaulten Schilfhäusern stieß. Und in einiger Entfernung von diesen Fundamenten, die wie der Abdruck dreier Boote im Gras lagen, dicht an der Abbruchkante der Steilküste, sah ich eine zerstörte, von dürrem Gras und Guaven überwucherte Plattform und zwischen mächtigen Trümmern einen vom salzigen Wind, von Flechten und den Wolkenbrüchen von Jahrhunderten entstellten Moai.
    Ich hatte auf meiner Fahrt über die Insel lange Reihen kolossaler Tuffstein- und Basaltfiguren gesehen, die, nach immer noch rätselhaften inneren und äußeren Katastrophen von Entdeckern, Forschern und Bewunderern der Rapa-Nui-Kultur aus tonnenschweren Bruchstücken wieder zusammengefügt und von neuem auf ihre Plattformen gestellt worden waren. Aber hier war alles so, wie die Zeit es zurückgelassen hatte. Hier kroch die Wildnis gnädig über alle Beweise menschlicher Gewalt und Zerstörungswut hinweg, bedeckte sie mit Blättern und Flechten und ließ Gesichtszüge von der Erosion abschleifen, bis ein Kopf vom nackten Fels nicht mehr zu unterscheiden war.
    Als wäre er bloß dem Beispiel enttäuschter Götter gefolgt und hätte sich von den Menschen und ihrer Insel ab- und endlich der pazifischen Weite, den Wolken- und Sternbildern des Himmels zugewandt, zeigte dieser Moai, dessen abgeschlagener, auf dem Gesicht liegender Kopf immer noch eine Linie mit dem gestürzten Körper bildete, über schwarze Klippen hinweg aufs Meer.

Jagdszenen
    Ich sah einen Vogel von der Größe eines Sperlings, der so naß vom Speichel seines Jägers war, einer dürren, rotfelligen Katze, daß Farben oder Muster seines Federkleides nicht mehr zu erkennen waren und nur noch zu vermuten blieb, welcher der mehr als dreihundert Vogelarten Paraguays er angehörte. Obwohl zu Tode erschöpft, erfüllte er wieder und wieder eine Rolle, die ihm die Katze aufzwang, wenn sie ihn zwischen ihre Krallen nahm, hochwarf und, flugunfähig wie er bereits war, auf den von Ölflecken übersäten, rissigen Asphalt einer Tankstellenauffahrt zurückfallen und davonhüpfen ließ: die Rolle der nach einem Versteck, nach Rettung suchenden Beute, an der sich Jagdtechniken üben ließen und die sich am Ende jedes Fluchtversuchs, scheinbar bereits entkommen, doch immer nur in den Krallen ihres Jägers wiederfand.
    In ihrem begeisterten Spiel ließ die Katze den Vogel an für Jäger und Gejagten immer schwieriger zu erreichenden Orten Zuflucht suchen – in den Hohlräumen unter einer eingestürzten Treppe, in den Spalten zwischen drei mit schwarzer Erde, Kohlenstaub oder gestocktem Altöl gefüllten Eimern an einer von Schlinggewächsen verhängten Mauer oder zwischen Stapeln zusammengeworfener, rissiger Autoreifen – und schaffte es doch jedesmal, alle Rettungsversuche ihres Opfers zu vereiteln.
    Je matter und langsamer die Flügelschläge des Vogels wurden, desto höher warf die Katze ihn hoch oder stieß ihn so heftig von sich, als wollte sie damit seine schwindenden Kräfte nicht nur wiederbeleben, sondern ersetzen. Manchmal nahm sie ihn auch ins Maul und trug ihn an den Ausgangspunkt eines nächsten Fluchtversuchs. Aber schließlich schleuderte sie nur noch ein unförmiges, verklebtes Federbündel in die Luft, an dem sich dann in einem plumpen, von keinem Flügelschlag gemilderten Fall höchstens einige Daunen sträubten und kaum eine Erinnerung daran zuließen, daß dieses reglose Ding einmal imstande gewesen sein sollte, hoch über erdgebundenen Feinden unerreichbar auf dem Wind zu liegen, zu flattern, zu segeln oder nach einem jäh abgefangenen Sturzflug so dicht über dem Kopf eines Jägers dahinzustreichen, daß der unwillkürlich in Deckung gehen mußte.
    Das Todesspiel ereignete sich an einem frühen Morgen unter dem geborstenen Flugdach einer aufgelassenen Tankstelle nahe dem Ufer des Paraná in der zweitgrößten Stadt Paraguays, die nach dem Sturz des Diktators Alfredo Stroessner ihren Namen
Puerto Presidente Stroessner
abgestreift hatte und seither bloß nach einer Himmelsrichtung genannt werden wollte:
Ciudad del Este.
Die Inhaberin jener kleinen, der Tankstellenruine benachbarten Frühstückspension, in der ich einige Maitage verbrachte, hatte mir vom verschollenen Besitzer dieses verwilderten Grundstücks erzählt, von einem Mann aus dem Volk der Guaraní, der in der Nachbarschaft für seinen Stolz bekannt war, keinen Tropfen europäisches, spanisches, portugiesisches Blut zu haben, wie so viele

Weitere Kostenlose Bücher