Atlas eines ängstlichen Mannes
getragen – und wieder abgelegt hatte, Namen, von denen jeder eine andere Geschichte erzählte. Hatte die Insel beispielsweise für Generationen
Kahukahu o hera
geheißen, was soviel bedeuten konnte wie
Unfruchtbares, ödes Grasland
, war sie zu anderen, besseren Zeiten
Te pito o te henua
–
Der Nabel der Welt
, weil ihre Bewohner lange überzeugt waren, vor der ungeheuerlichen Leere des Wasserhorizonts die einzigen Menschen unter der Sonne zu sein und ihre Insel das einzige Land; Land, das, wiederum Generationen später und lange nach der Einsicht in diesen Irrtum,
Mata ki te tangi
– etwa:
Blick zu den Sternen
hieß und an Schreckenszeiten erinnerte, in denen fast alle seine Bewohner von peruanischen Sklavenhändlern zum Guano-Abbau nach den fast viertausend Kilometer entfernten Chincha-Inseln verschleppt worden waren und dort, in Pferche ohne Dach gezwängt, in den Nächten die richtungsweisenden Sternbilder beweinten, unter denen ihre Heimat lag.
Aber so viele bloß mündlich überlieferte oder in Logbücher eingetragene Namen zu dem immer noch gültigen
Rapa Nui – Große Insel
auch geführt hatten, am Ende bewahrten die Seekarten sogenannter Entdecker und Eroberer vor allem die Erinnerung an jenen Ostersonntag des Jahres 1722 , an dem ein holländischer Kauffahrer, als erster in einer langen Reihe von spanischen, englischen, französischen und schließlich chilenischen Besatzern, von seinem Landungsboot an den Strand gewatet war, um den Namen der Westindischen Handelskompanie mit Kreuz und Fahne an das Land des Vogelmannes zu nageln. Das erloschene Neonkreuz ragte wie eine Erinnerung an diese Enteignung in den grauen Himmel.
Die Taxifahrerin, die in der Bucht von Anakena auf mich wartete, hatte mich bereits am Tag meiner Ankunft zu den Resten jenes Zeremonialdorfes gefahren, in dem die Führer der Clans nach einem oft tödlichen Wettkampf einen der Ihren zum
Vogelmann
, zum Herrn über die Menschen, erhoben hatten. Das Dorf lag am Rande eines Vulkans, in dessen Caldera ein Schilfsee den Sommerhimmel spiegelte, dessen Südwestflanke aber fast zweihundert Meter nahezu senkrecht zum Meer abstürzte. Wie Nester klebten die fensterlosen Steinhäuser am Kraterrand über dem tosenden Abgrund.
Alljährlich zur Brutzeit der als heilig verehrten Rußseeschwalben hatten sich hier die besten Schwimmer und Kletterer aller Clans versammelt. Als Stellvertreter der Clanführer und auf ihren Befehl waren sie dann durch die brüchige Steilwand ans Meer hinabgeklettert, hatten sich dort in die Brandung gestürzt und, auf Schilfbündeln liegend und mit bloßen Händen paddelnd, durch eine von Haien verseuchte Meerenge
Motu Nui
, eine kahle, der Steilküste vorgelagerte Felseninsel, zu erreichen versucht. Gelang ihnen das, mußten sie auf dieser von Vogelkot wie beschneiten Klippe tagelang, manchmal wochenlang auf die Ankunft der Zugvögel warten, warten, bis sich das erste Ei einer Rußseeschwalbe erbeuten ließ.
Wem das Glück dieser Beute beschieden war, der band sich dieses Ei um den Kopf und schwamm auf eine gegen zerklüftete Wände donnernde Brandung zu und kletterte, konnte er in der brodelnden Gischt je Fuß fassen, in die schwindelnde Höhe des Dorfes zurück, wo er dem Führer seines Clans ein unversehrtes Seeschwalbenei überreichte. Und der wurde durch diese Übergabe, die in tagelangen orgiastischen, es hieß: auch kannibalischen Ritualen gefeiert wurde, zum Vogelmann und herrschte bis zur nächsten Brutzeit über die Insel. Das auf Motu Nui erbeutete Ei einer Rußseeschwalbe hatte aber nicht nur die Kraft, einen Clanführer in den über allen anderen stehenden, flatternden Vogelmann zu verwandeln, sondern war auch ein Zeichen, ein Signal, mit dem nicht bloß ein neues Jahr, sondern die Zeit selbst von neuem begann.
Aber es war auch dieser verfluchte Vogelmann, hatte die Taxifahrerin auf unserer Fahrt über die Hänge des Vulkans gesagt, während ihre Tochter auf der Rückbank des Wagens ein Malbuch bearbeitete und bei jedem Schlagloch oder Lenkmanöver, das die Spitze ihres Buntstiftes über die Konturen einer vorgezeichneten Blume oder eines Pferdes hinaustrieb, laut seufzte – es war dieser Vogelmann!, der vermutlich den Anfang vom Ende des Ahnenkults und seiner Steinmänner und damit der Hochkultur der Rapa Nui herbeigekrächzt hatte.
Die Fahrerin – sie hatte bis vor zwei Jahren an der Kasse und als Platzanweiserin eines Kinos in Santiago de Chile gearbeitet und war auf die Osterinsel
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