Atlas eines ängstlichen Mannes
am Bahnhof sein, durch das Heckfenster, ich durch die Windschutzscheibe, in der sich die Gasse nun wieder in die Länge zu ziehen begann.
Und dann sah ich den Pfau. Er hüpfte von dem mit flatternder Wäsche überspannten Flachdach eines Hauses auf die Wallkrone, stolzierte etwa bis zu ihrer Mitte, machte Anstalten, seine Schleppe zu einem Rad zu schlagen, das mit seinen vielen Augen ein Untier vortäuschen und jeden Angreifer abschrecken sollte, schloß seinen Federfächer dann aber noch lange vor der Entfaltung wieder, so, als hätte er jetzt erst bemerkt, daß die von Schlaglöchern übersäte Gasse leer war, leer bis auf ein in Schlangenlinie rückwärts kriechendes Taxi, leer: ohne Nebenbuhler, ohne Bewunderer, ohne Feinde.
Das Attentat
Ich sah den Konvoi eines Königs auf dem Boulevard Durbar Marg im Zentrum der nepalesischen Residenzstadt Kathmandu: Drei schwarze Limousinen, eskortiert von Polizeifahrzeugen, Schützenpanzern und bewaffneten Motorradfahrern, glitten unter Alleebäumen dahin, in deren Kronen Scharen von Flughunden kreischten und schnatterten, als verglichen sie vor ihren nächtlichen Flügen noch rasch den Stand der neuesten Gerüchte. Mit dem Kopf nach unten wie übergroße Pelzfrüchte von den Zweigen hängend und eingehüllt in ihre Fledermausflügel, übertönten sie mit ihrem Stimmengewirr selbst die Motoren des Konvois.
Gyanendra Bir Bikram Shah Dev, Inkarnation der Hindugottheit Vishnu und König von Nepal, hatte es offenbar eilig, die Sicherheit seines Palastes noch vor Anbruch der Nacht zu erreichen. Denn in diesen Frühsommertagen schienen Könige schneller zu sterben als ihre Untertanen. Auch in Gyanendras Volk, in dem sich eine wachsende Zahl von Untertanen nicht mehr unter dem Banner der Monarchie, sondern unter den roten Fahnen der Maoisten versammelten, wurden die Stimmen immer lauter, die seine Abdankung, ja seine Verhaftung, manchmal sogar seinen Tod forderten. Dabei hatte Gyanendra seinen Thron erst vor wenigen Tagen bestiegen.
Es waren noch keine zwei Wochen her – ich wurde damals von einer fiebrigen Infektion in einem Zelt in den Bergen an der nepalesisch-tibetischen Grenze festgehalten –, daß ich die von einem Hochträger aus dem Volk der Tamang ins Zeltlager überbrachte Nachricht für ein wildes, der Unruhe im Land entsprechendes Gerücht gehalten hatte:
Gyanendras älterer Bruder Birendra, langjähriger, unerbittlicher Regent über Nepal und dessen Vorgänger auf dem Thron, sei mit seiner Königin, mit Prinzen und Prinzessinnen, insgesamt zehn Mitgliedern der ersten Familie des Landes, in einem Speisesaal des Palastes erschossen worden.
Als mein Fieber sank und ich Kathmandu nach mühseligen Marschtagen endlich erreichte, hatten sich zahllose, widersprüchliche Vermutungen über den Tathergang bereits zu einem schrillen Stimmengewirr gesteigert, das aber jedesmal erstarb, wenn Gefahr drohte, und so dem Flughundgeschrei ähnlich war. Zunächst hieß es sogar, auch Gyanendra, der am Abend des Massakers dem Palast und Speisesaal ferngeblieben war, sei in den Königsmord, der ihn am Ende zum neuen Herrscher machen sollte, verstrickt. Aber nach und nach behauptete sich eine Version des Geschehens, die schließlich als die einzig wahre bis in die entlegensten Himalayatäler getragen wurde:
Kronprinz Dipendra, der Sohn Birendras und Neffe Gyanendras, habe sich einer Entscheidung des Hofes nicht beugen wollen, der ihm bei Androhung des Verlustes seiner Thronfolge vorschrieb, eine Frau zu heiraten, die er nicht liebte. Dipendra, hieß es, wollte gegen das Gesetz seine wahre Geliebte zu seiner Frau machen und sei über dem königlich-väterlichen Spruch verzweifelt. Er berauschte sich mit Alkohol und Drogen, verließ nach einem Streit an der Tafel den Tisch, kehrte kurz darauf in einem Kampfanzug der Armee und mit zwei automatischen Waffen in den Händen in den Saal zurück und eröffnete das Feuer auf den König, auf seine eigene Familie. Dann richtete er eine seiner Waffen gegen sich selbst und verwundete sich tödlich.
Dipendra erlag drei Tage nach seiner Tat seinen Verletzungen, wurde aber, ohne daß er noch einmal zu Bewußtsein gekommen wäre und trotz aller Gerüchte, im Bett der Intensivstation zum Nachfolger seines erschossenen Vaters erklärt und zum neuen König ausgerufen. Als er am nächsten Tag starb, bestieg Gyanendra den Thron.
In den Unruhen, die dem Massaker im Königspalast folgten und in denen die gegensätzlichsten Versionen des Tathergangs auf
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