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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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Transparenten hochgehalten oder in Sprechchören gebrüllt wurden, gab es Verletzte und Tote. An dem Tag, an dem ich das Land Richtung Indien verlassen wollte, wurde der Flughafen geschlossen. Die Gnadenlosigkeit, mit der Polizei und Militär gegen die verstörten Untertanen vorrückten, rief Erinnerungen wach an jene Gewalt, mit der auch der ermordete König Birendra jeden Widerspruch bekämpft hatte. Kein Bewohner Kathmandus hatte vergessen, daß der König auf jenem Durbar Marg, über den der Konvoi sich jetzt dem Palast näherte, das Feuer auf Demonstranten hatte eröffnen lassen und dabei selbst Sanitäter und Helfer, die Verwundeten beistehen wollten, erschossen worden waren.
    In den Schaufenstern der Geschäfte und in den Cafés am Durbar Marg brannten bereits Lichter, und im Strom der Passanten und Flaneure kümmerten sich nur wenige um den Konvoi, der den Narayanhiti Path, die Palaststraße, beinah erreicht hatte. Auch mich hatte erst ein Antiquitätenhändler, mit dem ich gerade um den Preis eines faustgroßen, steinernen Buddhakopfes feilschte, auf den
king!, the king!, the king!
aufmerksam gemacht und auf die Limousinen gezeigt, in deren dunklen Scheiben sich aber nur mit Schwärmen von Flughunden behängte Baumkronen spiegelten – als auf einen blendenden Lichtblitz ein ohrenbetäubender Knall folgte und über einer Kreuzung, die der Konvoi soeben passierte, ein Flammenregen niederging. Dann lag eine ganze Zeile von Geschäften plötzlich in tiefer Dämmerung.
    Der abendliche Passantenstrom schien die Mine oder Bombe, die soeben detoniert war, zunächst gar nicht zu bemerken, sondern trieb und wälzte sich weiter dahin und dorthin. Allein in einen Schwarm Flughunde und in den Konvoi schien ein panischer Schrecken gefahren zu sein. Es waren gewiß mehr als hundert dieser fliegenden Hündchen, die plötzlich ihre Fledermausflügel entfalteten und flatternd aus den Bäumen stürzten, als hätte die Druckwelle der Explosion sie aus den Zweigen gesprengt. Jetzt strichen sie als schwarze Wolke über den Konvoi des Königs und über die Köpfe seiner Untertanen dahin.
    Limousinen und Eskorte rasten auf die Palasttore zu, während Soldaten von einem Lastwagen sprangen und zwei Schützenpanzer offensichtlich in Gefechtsstellung gingen. Aber wo war der Feind?
    Der Antiquitätenhändler, dessen Laden nach der Explosion ebenfalls im Dunkeln lag, befürchtete möglicherweise, daß ich den Stromausfall nützen und verschwinden könnte, nahm mir den Buddhakopf aus den Händen und sagte lachend, daß ich gerade ein typisch nepalesisches Feuerwerk gesehen hätte:
    Explodiert war eines jener Trafotürmchen, die, von einem Kokon aus elektrischen Drähten, Leitungen und Isolatoren umsponnen, wie Chaosdenkmäler aus vielen Gassen Kathmandus aufragten. Dabei konnte die Königsstadt, wenn überhaupt, damals nur zur Hälfte und nach einer Regel beleuchtet werden, die an geraden Tagen die Stadtbezirke diesseits, an ungeraden Tagen dagegen die Bezirke jenseits des Bagmati-Flusses mit elektrischem Strom versorgte. In den Straßen der lichtlosen Bezirke brannten dann Müllfeuer, über denen gekocht wurde, an denen man sich wärmte, und in den Fenstern flackerte Kerzenlicht. Aber auch am glücklichen, hell erleuchteten Ufer des Flusses konnte es nach der Explosion einer Trafostation jederzeit dunkel werden. Dann lagen funkensprühende Kabel in den Gassen oder hing ein qualmender Flughund an einer Leitung, die durch einen gerissenen Draht geerdet worden war und ihn mit einem Stromschlag getötet hatte. Flughunde hielten sich selbst an ihrem letzten Halt so fest, daß auch der Tod ihren Griff nicht lockern konnte. Ich hatte Leitungen gesehen, an denen nur noch zwei Krallen hingen, während der Rest des Kadavers längst von Vögeln gefressen oder verwesend abgefallen war.
    Der König; der König. Vielleicht hatte sich der Händler ja getäuscht und in den nun verschwundenen Limousinen hatten bloß hohe Beamte, Waffenhändler, Diplomaten gesessen, in keinem der gepanzerten Wagen aber
the king.
Vielleicht hatte der letzte König von Nepal seinen Palast gar nicht verlassen oder hatte sich, gut getarnt, unsichtbar, im Gassengewirr seiner Residenz davon überzeugt, daß seine Zeit vorüber war. Und vielleicht hätten die Schützenpanzer auch ohne Flammenregen und Explosionsknall dort Position bezogen, wo sie nun drohend standen. Soldaten waren ausgestiegen, hatten Zigaretten aus ihren Brusttaschen gezogen und betrachteten rauchend die

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