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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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spanischen Bürgerkrieg zum Protestschrei gegen den Faschismus und schließlich zum Schlachtruf der lateinamerikanischen Guerilla geworden war. Aber die Faust!, die geballte Faust dieser mädchenhaften Frau, über die jetzt der Schatten einer Tragfläche hinweghuschte, war unmißverständlich. Dabei hatte ich Tiziana in den vergangenen Tagen immer wieder als vorsichtig – und übervorsichtig erlebt. Sie schluckte tagsüber unzählige Pillen in allen Größen und Farben, Vitamine, Magnesium, Prophylaxen gegen Höhenkrankheit und Magen- und Darmbeschwerden, warnte bei jeder Gelegenheit vor Obst und ungekochtem Gemüse und filterte und desinfizierte selbst Mineralwasser aus geschlossenen Flaschen. Jetzt aber streckte sie den vier Piloten ihre Faust entgegen.
No pasarán!
    Ihr Freund lachte. Und im ersten Augenblick lachte auch ich. Einem Kampffliegergeschwader mit der Faust zu drohen hatte etwas seltsam Rührendes, Komisches, aber auch etwas von der Kühnheit eines Kampfes gegen Windmühlen. Was an uns vorüber- und über uns hinwegraste, war unerreichbar wie ein Meteorit. Aber dann, als hätte Tizianas kleine Faust das Geschwader tatsächlich verscheucht, wurde das Dröhnen leiser.
    Die Jäger stiegen über der fernen Staumauer von San Sebastián in eine lange Schleife und waren damit wohl bereits im Anflug auf Potosí – als sich eine Maschine plötzlich aus dem Verband löste, in einer Steilkurve wendete und zurückflog; an unser Ufer zurück. Wir brauchten lange, um endlich glauben zu können, daß diese Rückkehr tatsächlich uns galt. Das Flugzeug stürzte jetzt aus der Sonne und wieder im Tiefflug auf uns zu. Auf der Pilotenkanzel waren nur blendende Sonnenreflexe zu sehen, kein Helm, kein Gesicht.
    Potosí
, hatte der Besitzer unserer Frühstückspension gesagt, sei aus einem Quechua-Wort, der Sprache der Andenleute, abgeleitet:
P’utuqsi
. Das bedeute
Lärm.
    P’utuqsi: Das Wort drängte sich mir in diesen Sekunden auf wie ein lange vergeblich gesuchter Name, der einem Vergeßlichen endlich und unwillkürlich wieder in den Sinn kommt – als das ohrenbetäubende Gebrüll der Maschine plötzlich zerhackt wurde von einem metallischen Hämmern und dicht neben unserem Pfad plötzlich Staub- und Sandfontänen hochschlugen, Orgelpfeifen aus Staub, die noch im Hochschlagen wieder verwehten.
    Es war Tiziana, die als erste begriff, was hier geschah: Der schießt! Der schießt auf uns, der schießt!
    Wie massig und weich, ja knochenlos meine Beine plötzlich waren. Ich wollte laufen, wollte Geschossen, die ihre Ziele schneller als der Schall erreichten, ausweichen. Aber meine Beine waren nicht zu gebrauchen. Ich stand einfach da.
    Der Biologe …, den sah ich laufen. Aber seltsamerweise flüchtete er nicht hangabwärts, sondern hastete in dieser stechend kalten, auszehrenden Luft den Hang empor! Empor.
    Nur Tiziana hatte sich zu Boden geworfen und schrie,
legt euch hin, hinlegen, legt euch hin!
    Hinlegen. Auf diesen kahlen, kalten Boden, auf dem kein Baum, kein Strauch Deckung bot. Zwischen dürre Grasbüschel, die kaum knöchelhoch waren.
    Leg dich hin, Idiot!
    Später, noch Tage danach, schon auf dem Weg zum Titicacasee, sollten wir darüber streiten, ob ein unbewegtes Ziel, in Deckung oder nicht, für einen fliegenden, rasenden Schützen schwieriger auszumachen war als ein bewegtes; ein Liegender, selbst in einer baum- und strauchlosen Wüste, schwieriger als ein Flüchtender. Warfen Soldaten sich denn nicht zu Boden, während ahnungslose Zivilisten davonrannten?
    Aber was immer wir an diesem Julimorgen getan oder unterlassen hätten – es wäre zu spät gekommen, viel zu spät, wenn der Pilot uns nicht verfehlt hätte.
    Ich konnte mich weder auf unserem Rückweg nach Potosí, wir verließen die Stadt noch am selben Tag auf Nebenstraßen, noch in den folgenden Wochen in Peru und Kolumbien erinnern, wann und wie ich Tizianas Aufforderung endlich gefolgt war und mich auf den trotz der grellen Sonne eisigen, nackten Boden fallen ließ. Erst was dann geschah, wurde wieder unvergeßlich, auch wenn es nur wenige Augenblicke lang gedauert haben konnte.
    Ich spürte die Kälte des Bodens, den Druck kalter Steine an meiner Brust und sah den donnernden Schatten des Flugzeugs über den Abhang jagen und sah plötzlich, wie sich aus einem dürren, fingerhohen Grasbüschel dicht vor meinen Augen ein Käfer hervorkämpfte. Er hatte sich wohl bei einem erfolglosen Flugversuch mit seinen beiden Flügelpaaren zwischen

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