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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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fair
    Honeysuckle blooming in the wildwood air …
    Feel like a prisoner in a world of mystery
    I wish someone would come
    And push back the clock for me.
    Die Albatrosse, hatte der Vogelwart gesagt, seien sozusagen ungerufen in sein Leben gesegelt und hätten ihn aus der Welt eines Linienbusfahrers in jenes Vogelreich mitgenommen, das er wohl nicht mehr verlassen werde. Seit seine Frau vor neunzehn Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war und er in ihrem gemeinsamen Haus in Dunedin nicht mehr weiterleben und auch keine Linienbusse mehr fahren wollte, in denen er tagtäglich stundenlang an drohende Unfälle und ihre Opfer denken mußte, hatte er sein Leben an das der Albatrosse gebunden. Die kleinere seiner beiden Töchter war nach dem Unfall für ein ganzes Jahr nicht mehr gewachsen, ja!, hatte als dreijähriges Kind für ein ganzes trauriges Jahr einfach aufgehört zu wachsen. Und ihr Protest – er hatte diesen rätselhaften Stillstand entgegen ärztlicher Meinung immer als eine Art Protest gegen das Verschwinden der Mutter empfunden – legte sich erst, als er begann, mit seinen Töchtern in den Monaten der Brutzeit bei jeder Gelegenheit von Dunedin zur Albatroskolonie am Taiaroa Head hinauszufahren, um dort mit ihnen diese wunderbaren Tiere stundenlang zu beobachten.
    Seit auch seine Töchter flügge geworden waren, die ältere hatte nach Perth, Australien, geheiratet, die jüngere war ihrem Freund nach Tasmanien gefolgt, gab es für ihn nur noch die Albatrosse. Einigen, die ihm besonders vertraut geworden waren, hatte er Namen gegeben, die erkannte er schon an ihren besonderen, unnachahmlichen Flugmanövern, selbst wenn sie nach zweijährigen oder noch längeren Brutpausen aus der ungeheuerlichen Weite des Pazifiks wieder zum Taiaroa Head zurückkehrten.
    Was für eine Mühsal, hatte der Vogelwart gesagt, einen jungen Albatros zu füttern. An manchen Tagen mußten die Eltern Hunderte Meilen weit fliegen, um den Nachwuchs satt zu kriegen. Manchmal ließen sie das Junge auch für Tage allein, bevor sie es mit ihrem im Fliegen vorverdauten Nährbrei sättigen konnten. Bemerkenswert, daß ausgerechnet ein Wesen, das sich von seinem Nachwuchs so weit entfernte, weiter als jedes andere Tier dieser Erde, so unbeirrbar und verläßlich zurückkehrte, daß das verlassene Vogeljunge im Vertrauen auf diese Rückkehr niemals klagte, sondern stumm, seelenruhig aus dem Nest watschelte und dann ebenso seelenruhig die Stunden oder Tage des Wartens mit Flugübungen verbrachte.
    Die Regenschleier schienen dem jungen Königsalbatros jetzt etwas Freßbares zugetragen zu haben. Er versuchte, die Beute mit vorgerecktem Hals hinunterzuwürgen, und breitete dabei seine Schwingen aus, um die Brust zu dehnen und Raum zu schaffen für den allzu großen Happen, als Bob Dylans Ballade von Radionachrichten unterbrochen wurde:
    In Wellington, der Hauptstadt mit ihren lebenswichtigen Fährverbindungen zwischen der neuseeländischen Nord- und Südinsel, hatte die Erde wieder einmal gebebt; diesmal waren keine Toten zu beklagen, aber neun Verletzte. In Christchurch hatte ein Junge mit dem Revolver seines Vaters einen Freund erschossen. An der Nordküste waren drei Dutzend Grindwale gestrandet und erstickt, und drei von fünf Besatzungsmitgliedern waren ertrunken, nachdem ein Fischkutter in einer Monsterwelle gekentert war. In Afghanistan war Krieg. In Südosteuropa war Krieg. In einer Kleinstadt des amerikanischen Mittelwestens war ein Schüler Amok gelaufen.
    Manche Windstöße waren jetzt so heftig, daß der schwere Geländewagen schaukelte wie angestoßen vom Luftschild eines herandröhnenden Lastwagens oder dem einer Lokomotive. Und dann, als hätten ihn die Radionachrichten
beflügelt
und nur darin bestärkt, daß man diese Erde, alles Festland, am besten tief unter sich zurückließ, erhob sich der junge Königsalbatros, immer noch würgend, wieder in die Luft, hielt die weit gebreiteten Schwingen jetzt aber entschlossen und starr im Aufwind, stieg so wie ein Papierdrachen höher und höher und ließ sich schließlich, irgendwo hoch oben und obwohl Albatrosse stumm durch ihr Vogelleben gleiten und nur zu Balzzeiten und im Kampf ihre Stimme erheben, mit einem langgezogenen Triumphschrei in eine vollendete Schleife fallen und segelte dann, ein riesiger, schwereloser Vogel im Sturm, ruhig über umbrandeten Klippen dahin.

Der Pfau
    Ich sah einen Wall aus Sandsäcken, eine Barrikade ohne jeden Durchlaß, in einer Gasse von

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