Atlas eines ängstlichen Mannes
New Delhi. Der Fahrer des Taxis, in dem ich saß, bremste jäh, fuhr dann aber langsam weiter und auf diesen Wall zu, als hoffte er, das Hindernis würde sich allein durch unsere Annäherung auflösen. Erst als die Barriere so groß geworden war, daß sie unser gesamtes Blickfeld einnahm, hielt er, ohne den Motor abzustellen, verharrte, die Hände auf das Lenkrad gelegt, einige Atemzüge lang reglos und wortlos und beantwortete auch meine Frage nicht, wieviel Zeit der nun unvermeidliche Umweg erfordern würde. Dann legte er den Rückwärtsgang ein, wandte sich um und damit mir und dem mit Glöckchen und Goldfäden behängten Heckfenster zu und begann, während er den Wagen in einem kurvigen Manöver zurücksetzte, von den zum Tode verurteilten Mördern der Ministerpräsidentin Indira Gandhi zu sprechen, zwei Sikhs, ihren eigenen Leibwächtern, die vielleicht noch heute nacht gehängt würden. Das Militär, sagte er, erwarte nach der Hinrichtung wohl Straßenschlachten, deswegen diese Sandsäcke, deswegen diese tote Gasse. Viele seiner Angehörigen und Freunde seien aus Angst vor den drohenden Kämpfen zwischen Hindus und Sikhs aus der Stadt geflüchtet.
Auch ich wollte das Stadtviertel verlassen, in dem ich die vergangenen Tage als Gast im Haus eines Sikhs verbracht hatte. In einer von Hindus bewohnten Nachbarschaft war ein solches Haus kein sicherer Ort. In den Pogromen, die nach dem Attentat auf Gandhi in Nordindien gewütet hatten, waren allein in Delhi mehr als dreitausend Sikhs getötet worden. Hindus wollten so den Tod ihrer Präsidentin an Gemüsehändlern, Handwerkern, Rikschafahrern und allen rächen, die das Unglück hatten, dem Volk von Indiras Mördern anzugehören.
Geh, hatte mein Gastgeber gesagt, geh, ich gehe auch. Mir klangen die Stockschläge noch in den Ohren, zehn, zwölf Schläge jede Minute, mit denen die Wächter seines Hauses, zwei Saisonarbeiter aus dem Punjab, jedem Feind einhämmern wollten, daß dieses Haus nicht verlassen und nicht preisgegeben worden war, sondern bewacht und notfalls verteidigt wurde. Die beiden trugen Enfield-Gewehre aus dem Zweiten Weltkrieg und hatten in den vergangenen Nächten das Haus, die mit Stacheldraht und Glasscherben bewehrte Gartenmauer vom Einbruch der Dunkelheit bis zum Sonnenaufgang umschritten und dazu mit ihren Schlagstöcken einen warnenden Takt gegen Wände und Mauern geklopft.
In einer dieser Nächte hatte ich zwischen langen schlaflosen Stunden das Geräusch der Stockschläge als Hammerschläge geträumt: Ein blutüberströmter Mann war aus seinem Haus gezerrt und an Armen und Beinen an ein von Stacheldraht umranktes Tor genagelt worden. Und am Abend nach diesem Traum hatte ich schon an den Ausbruch eines Pogroms geglaubt, als ich auf dem Weg zu einer Bäckerei auf einer abschüssigen, von den Lichtern Dutzender Läden erleuchteten Gasse in eine aufgeregt schreiende Menschenmenge geraten war, die einen blutüberströmten Mann umdrängte.
Der Mann trug den
Dastar
, den Turban der Sikhs. Er lag zusammengekrümmt auf dem Straßenpflaster und hob abwehrend die Arme, wenn sich jemand über ihn beugte, und rief dazu immer wieder etwas, das wie eine Bitte um Gnade oder eine Unschuldsbeteuerung klang. Erst als ich Hunderte von verstreuten Chilischoten und ein immer noch hoch mit festgebundenen Körben beladenes Fahrrad am Straßenrand liegen sah, verflüchtigte sich das Bild eines Pogroms. Hier war wohl ein Gemüsehändler zu Sturz gekommen und wollte nun nicht fortgetragen, nur nicht hochgehoben werden. Schon die geringste Berührung schien ihn zu schmerzen. In der Menge gab es offensichtlich verschiedenste Meinungen, wie dem Verletzten zu helfen und wie er von der Straße zu schaffen war. Schließlich wurde der Schreiende doch in eine Rikscha gehoben, in der er verschwand, während zwei barfüßige Jungen die Chilischoten aufsammelten und ein Kupferschmied aus der Ladenstraße das Fahrrad in seine Werkstatt schob.
Das Taxi, in dem ich saß, sollte mich zum Bahnhof bringen. Ich wollte nach Rajasthan, nach Jaipur und dann weiter in die Wüste Thar und fürchtete, wegen des von der Sandsackbarriere erzwungenen Umwegs meinen Zug zu versäumen. Auf der Krone des Walls, der im Rahmen der Windschutzscheibe nun wieder zu schrumpfen begann, während der Taxifahrer zurücksetzte, war nichts zu sehen, kein Beobachtungsposten, kein Helm, kein Stacheldraht. So starrten wir aneinander vorbei, der Fahrer, der keine Angst, keine Angst sagte, wir würden rechtzeitig
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