Atlas eines ängstlichen Mannes
saß auf dem Boden vor einer geschlossenen Schranktür, auf die er ein großes Herz, vielleicht war es auch ein Apfel, gemalt hatte. Sein Werkzeug, den Filzstift, hatte ihm ein Abgesandter aus dem Kontrollraum abgenommen. Jetzt saß er mit angezogenen Beinen vor seinem Werk, wollte nichts essen, hatte den Kopf auf die Knie gelegt.
Als sie noch sprach, hatte die junge Frau gegen dieses Auge gekämpft; vergeblich. Und vergeblich war auch ihr Kampf um das nächtliche Dunkel gewesen: In ihrem Zimmer durfte das Licht niemals erlöschen. Weniger grell, ja, weniger grell, fast dämmrig, durfte das Licht zur Schlafenszeit werden, aber niemals erlöschen. Schließlich konnte im Schutz der Dunkelheit geschehen, was niemals geschehen durfte, niemals in diesem Haus am Rand der Stadt, am Rand der Wildnis, in dem für alles, alles gesorgt war und ein Mensch beschützt wurde vor allem, was sein Leben bedrohte, beschützt sogar vor sich selbst.
An ihren ersten Tagen hier, hatte die junge Frau gesagt, als sie noch sprach, an ihren ersten Tagen habe eine Stimme, die wohl zu diesem Auge gehörte, aus der Wand zu ihr gesprochen, habe aus dem Kissen geflüstert, selbst aus dem Inneren ihres Kopfes, immerzu … Und als sie irgendwann ihre Fäuste gegen die Ohren preßte, damit es endlich still würde, still!, war diese Stimme wie das Meeresrauschen aus einer Muschel sogar aus ihren geschlossenen Fäusten zu vernehmen gewesen:
Du sollst! Du sollst, du sollst, hatte diese Stimme wieder und wieder geflüstert, gesummt, gemurmelt, in einer Litanei, so endlos wie das Licht in ihrem Zimmer, du sollst dich nicht töten.
Flugversuche
Ich sah einen jungen Königsalbatros auf einem grasbewachsenen Steilhang nahe der alten Maorisiedlung Otakou auf der Südinsel Neuseelands. Der Jungvogel war aus seinem Versuch, in waagrecht heranjagenden Regenschleiern aufzufliegen, ins Gras zurückgestürzt und ordnete nun seine langen, schmalen Schwingen. Mit seiner Flügelspannweite von gewiß drei Metern hatte er wohl bereits die Größe seiner Eltern erreicht, ja übertraf sie durch ihre Fürsorge vielleicht schon an Gewicht, aber der Wind, der an seinem rauchbraunen Gefieder riß, schien immer noch eher sein Feind zu sein als sein Element. Dabei würde er bald imstande sein, monatelang, jahrelang fernab aller Küsten dahinzusegeln, ohne sich jemals anderswo niederzulassen als auf den Wellen des Pazifischen Ozeans. Fliegend würde er jagen – Tintenfische, die in den Nachtstunden bis dicht unter die Meeresoberfläche emporstiegen, Quallen, schwärmende Fische; fliegend würde er fressen, und selbst schlafen würde er im Fliegen; schlafen, träumen im Segelflug. Und festes Land würde er im Verlauf seines fünfzig Jahre und länger dauernden Vogellebens nur noch in Brutzeiten aufsuchen. Aber noch warf ihn der Wind ins wehende Gras oder hob ihn wie prüfend hoch, hielt ihn einen kurzen Augenblick über den mit Gischtflocken beschneiten Grasbüscheln in der Luft und ließ ihn abermals fallen. Noch konnte er nicht fliegen.
Albatrosse, hatte der Vogelwart gesagt, aus dessen Geländewagen ich die Flugversuche des Jungvogels beobachtete, Albatrosse würden sich erst neun Monate nachdem sie aus ihrem Ei auf jenes Festland geschlüpft waren, das sie so schnell wie möglich verlassen wollten, in die Luft erheben. Der Vogelwart war an diesem Tag von der Brutkolonie am Taiaroa Head aufgebrochen, um Nistplätze zu kartographieren, und hatte mich, einen Strandwanderer, in einem Wolkenbruch aufgelesen und mir angeboten, mich bis zur Broad Bay mitzunehmen. Jetzt saß ich in seinem Wagen auf einem Parkplatz hoch über schwarzen Klippen im Trockenen, während er bei strömendem Regen einen Steilhang nach verlassenen Nestern absuchte. Im Autoradio war zwischen Werbespots für Fischerei- und Bootszubehör eine Ballade von Bob Dylan zu hören:
My heart’s in the highlands
.
In den Wasserschleiern, die über die Windschutzscheibe rannen, schien auch der Albatros mit seinen ausgebreiteten, von den Windstößen einmal hochgebogenen, dann wieder übereinandergeworfenen Schwingen zu zerfließen, und wenn er sich über die Grasbüschel erhob und der Wind ihn wieder zu Boden warf, war es, als stiege ein verwirrtes oder betrunkenes, seine Erscheinungsformen ständig wechselndes Federwesen nur für einen Augenblick aus seinem Versteck, um sich gleich wieder in die Deckung zurückfallen zu lassen und dort neuerlich zu verwandeln.
Well my heart’s in the highlands gentle and
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