Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
Vom Netzwerk:
erloschenen Schaufenster. Die Passanten und Flaneure gingen weiter ihren Geschäften nach, vielleicht etwas eiliger jetzt. Die Soldaten würden über die Einhaltung der jüngsten nächtlichen Ausgangssperre wachen.  
    Vielleicht, sagte der Händler, bevor er mir ein letztes Angebot für den steinernen Kopf machte, seien die Flughunde dem König, der keine Macht über sie hatte, über alle Mauern und Stacheldrahtbarrieren hinweg vorangesegelt, um dem Volk der Nepalesen ein Beispiel zu geben. Als Nektarfresser, Früchtefresser, Blütenfresser waren ihnen die königlichen Gärten und Parks ja ein lohnendes Ziel. Gleichgültig gegenüber Ausgangssperren und Verbotszonen und hoch über den Köpfen von Soldaten und Leibwächtern, flogen sie Abend für Abend darauf zu.

Luftangriff
    Ich sah vier einmotorige Militärmaschinen im Tiefflug über der glitzernden Wasserfläche des Stausees San Sebastián im bolivianischen Hochland. Die Jagdflugzeuge hielten offensichtlich Kurs auf die nahe, viertausend Meter über dem Meeresspiegel gelegene Zinn- und Silbergrubenstadt Potosí. Der Motorenlärm war schon seit einiger Zeit als unbestimmbares, an- und abschwellendes Dröhnen aus den umliegenden Tälern zu hören gewesen, steigerte sich aber, als die Jäger plötzlich über einem kahlen Höhenzug auftauchten, in den Sinkflug kippten und dann kaum dreißig Meter über dem Seespiegel dahinstrichen, zu einem infernalischen Gebrüll.
    Ich wanderte an diesem eisigen Julivormittag – in der Nacht war Schnee gefallen, der unter einer grellen, kalten Morgensonne wieder verschwand – mit einem Biologen aus Bayern und seiner Freundin, einer jungen Ärztin aus dem italienischen Pistoia, über baum- und strauchlose Hänge am Seeufer. Wir hatten uns in einer unheizbaren Frühstückspension in Potosí kennengelernt, die dem Biologen seit drei Monaten als Basis diente für seine Bestimmung der Moose und Flechten des
Altiplano
, eines kahlen, drei- und viertausend Meter über dem Meer liegenden Hochlandes zwischen den westlichen und östlichen Anden. Tiziana, seine Freundin, begleitete ihn nur für einige Sommerwochen, um dann wieder zu ihrer Arbeit als Narkoseärztin in einer Mailänder Klinik zurückzukehren.
    Wir hatten auf unserem morgendlichen Weg über die Hänge am Seeufer von San Sebastián einmal mehr über unsere überfällige Abreise gesprochen, die der Biologe und seine Freundin bereits dreimal verschoben hatten. Ich war unterwegs nach Peru und nur auf der Durchreise in Potosí, hatte mich den beiden aber angeschlossen, weil sie anboten, mich in ihrem Campingbus zum Titicacasee und weiter nach dem peruanischen Arequipa mitzunehmen.
    Ja, aber ja doch, hatte der Biologe auch an diesem Morgen gesagt, aber ja, so schnell wie möglich, er wolle doch auch so schnell wie möglich nach Peru, morgen, nur noch diese eine Exkursion an den Stausee von San Sebastián. Schließlich käme ja vielleicht keiner von uns je wieder in dieses Hochland zurück.
    In La Paz war in diesen Julitagen der von den mächtigsten Kokainhändlern des Landes unterstützte General García Meza in einem blutigen Putsch zum neuen Diktator Boliviens geworden; zu einem der bisher grausamsten, wie sich während seiner bloß einjährigen Herrschaft noch zeigen sollte. Wie von einem landesweiten Schrecken gelähmt, standen Züge und Überlandbusse still. Viele Straßen waren gesperrt oder von Militärfahrzeugen verstopft; Telefonleitungen blieben stumm. In den spärlichen Nachrichten, die Potosí erreichten, war von einer Verhaftungswelle und vielen Toten die Rede gewesen.
    Daß seine Truppen und Gefolgsleute in einer Grubenarbeiterstadt wie Potosí keine Freunde, zumindest nicht in Massen, finden würden, konnte den neuen Landesherrn nicht überraschen. Das Jagdfliegergeschwader über dem See war vielleicht eine Demonstration seiner Wachsamkeit. Die Maschinen dröhnten an jenem steinigen Hang, den wir, keuchend in der dünnen Luft, emporstiegen, so nahe, fast auf Augenhöhe vorüber, daß ich in den Glaskanzeln die behelmten Köpfe der Piloten sehen konnte. Zwei von ihnen wandten sich uns zu.
    Und plötzlich streckte Tiziana, die vor mir ging, diesen brüllenden Maschinen ihren Arm entgegen, ballte die Faust und schrie den Jägern wütend
No pasarán!
zu.
No pasarán!
Sie werden nicht durchkommen!
    Vermutlich hätte selbst ein in der Pilotenkanzel sitzender Lippenleser diesen Zuruf nicht verstanden, der bereits in den Schützengräben von Verdun gebrüllt, aber erst im

Weitere Kostenlose Bücher