Atlas eines ängstlichen Mannes
zu Abend gegessen hatte, und am nächsten Tag seine Einladung angenommen, die Fazenda Floresta als sein Gast zu besuchen. Auf der Fahrt aus der grenzenlos scheinenden Stadt hinaus und endlich über freies Land hatte er von seinem langwierigen Unternehmen erzählt, kleinwüchsige Zebus, aus Indien stammende Buckelrinder, die das Bild brasilianischer Weiden damals noch bestimmten, mit vergleichsweise massigen, Fleisch
und
Milch liefernden Simmentalern, schweizerischem Fleckvieh, zu kreuzen. Immer wieder sei er nach Europa gereist und mit Kühlboxen voll Simmental-Embryonen im Gepäck zurückgekommen, kostbarem Zuchtmaterial, das dann den Mutterkühen auf der Fazenda von einem Indio eingepflanzt wurde, der nicht nur Pferde, sondern auch Kühe dazu bringen konnte, ihm aufs Wort zu gehorchen. Aber das europäische Fleckvieh gedieh hier der Feuchtigkeit, der Hitze, des mageren Grases und der Parasiten wegen nicht so recht; es hatte immer neuer Anläufe und Zuchtvarianten bedurft. Aber jetzt, endlich, lagen seine Simmentaler so friedlich wiederkäuend auf den Weiden der Fazenda, als hätte die Rasse nie einen anderen Schatten gekannt als den des Urwalds, den von Quaresmeirabäumen und Palmen.
Natürlich forderte die Wildnis von jedem Neuling ihren Preis, die Simmentaler, zum Beispiel, wurden zu den geplagtesten Opfern der Dasselfliege, eines Biestes von der Größe einer Wespe, das seine Eier in die Haut der Rinder legte, wo dann fette Maden heranwuchsen, aus denen die nächste Generation von Parasiten schlüpfte.
Bei den vielen Dasselfliegen, die eine Simmentalerherde umschwirrten, konnte es geschehen, daß auch Menschen als sogenannte Fehlwirte befallen wurden … Der zu seiner Frau gewordenen Geliebten des Fazenderos war das zugestoßen, und sie war nach dem Versuch eines Viehhüters, die Made mit seinen geschickten Fingern ebenso aus der Beule zu drücken, wie er dies ansonsten mit großer Sicherheit bei den Rindern tat, an einer Blutvergiftung beinah gestorben. Der Hüter hatte in seiner Schüchternheit, seinem Respekt vor der Frau des Grundherrn und im Eifer, alles, alles richtig zu machen, die Made noch unter der Haut zerdrückt.
Aber was immer auf der Fazenda Floresta bedrohlich wurde, war im Gegensatz zu dem, was einem in den Straßen von São Paulo auflauern konnte, wenigstens berechenbar. Nein, vor die Wahl gestellt, ein Leben zwischen Wolkenkratzern und den Blech- und Papphütten der Favelas oder hier, weit draußen, zu führen, würde der Fazendero auch jetzt keinen Augenblick mit seiner Entscheidung für die Floresta zögern. Und selbst wenn die Wildnis hier eines Tages wieder übermächtig werden und alle Weiden zurückfordern sollte – und das war ja so gewiß wie der Tod –, dann würde sich damit bloß einmal mehr zeigen, daß alles Land, Grundbücher hin oder her, eben nur von der Wildnis gepachtet war.
Unser Ausritt hatte gegen Mittag über die Grundgrenze geführt, zum einzigen Nachbarn in einigermaßen leicht erreichbarer Nähe, einem kleingewachsenen Mann, der eine Lehmhütte auf einer Lichtung bewohnte und sich dort von einem einzigen riesigen Avocadobaum ernährte, dessen Früchte er auf dem Markt in Buri verkaufte.
Der Nachbar bot uns Pinga, Zuckerrohrschnaps, in großen Gläsern an und nahm dann eine gerahmte Schwarzweißfotografie von der Wand, um sie uns stolz zu zeigen, das neueste Bild seiner beiden Söhne, neben einem Kruzifix einziger Wandschmuck in seiner Hütte: Die Söhne posierten darauf in weißen Hemden mit breiten, offenen Krägen vor dem Hintergrund der Wolkenkratzer von São Paulo. Die Arme vor der Brust gekreuzt, hielten sie breit lächelnd in jeder Faust eine Pistole.
Diese beiden, sagte der Avocadobauer, hatten es geschafft. Was genau sie in der Stadt für ihren Lebensunterhalt taten, wisse er nicht, und er wolle es auch nicht wissen, aber wir sollten uns doch bloß ihre Hemden ansehen, er habe in seinem ganzen Leben noch kein einziges solches Hemd besessen.
Auf unserer Heimkehr von den hitzeflirrenden Weiden in die von Deckenventilatoren gefächelte, nach Pfefferminze und Hibiskus duftende Kühle des Herrenhauses zeigte mir der Fazendero hölzerne, luftige Pfahlbauten, die ich wegen der Fliegengitter vor den breiten Fenstern für Wohnungen hielt. Aber es waren Ställe, schlangensichere Kälberställe, in denen das Jungvieh während seiner ersten Lebenswochen geschützt sein sollte vor den Gefahren der Weiden. Auf schmalen Borden über den Futtertischen standen
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