Atlas eines ängstlichen Mannes
diesen Krügen getrunken; ach was: die Krüge hätten als Vorratsbehälter, nein: als Wasserspeicher, nein: als Urnen gedient, sagten die anderen. Die Wahrheit war bis in die Gegenwart auch deswegen immer noch ein Rätsel geblieben, weil das Land, aus dem die allermeisten dieser Krüge unberührt und unvermessen aufragten, nur in wenigen Abschnitten zugänglich, zum größten Teil aber von Minen verseucht war.
Sang war aus dieser Hochebene vor unendlich langer, in vielen Träumen aber immer noch gegenwärtiger Zeit ans Wasser, an die Ufer des Mekong geflüchtet, während die Dörfer, die Reisfelder und alles Land um Phonsavanh sich unter den Bombenteppichen amerikanischer Geschwader in ein von Kratern übersätes, an Mondwüsten erinnerndes Brachland verwandelt hatten: vom Entlaubungsmittel
Agent Orange
vergiftet und unbetretbar geworden durch Abermillionen von Minen und explosionsbereiten Blindgängern aus dem Bombenhagel. Auf dieser Ebene gediehen Bäume nur noch dort, wo die Bomben die Erde umgepflügt und die vom Gift unberührte Krume an die Oberfläche geschleudert hatten.
Wenn Bootsmann Sang nach der Übergabe seines Langbootes an seinen Sohn nun für einige Tage oder eine Woche dorthin zurückkehrte, dann auch, um die Erinnerungen, die ihm seit den Nachmittagsstunden eines Bombenangriffs das Träumen schwer und schmerzhaft machten, mit dem vielleicht friedvolleren Anblick der Gegenwart zu besänftigen. Wo der Hof seiner Eltern gestanden hatte, soviel wußte er aus Berichten und von einem Foto, das er bei sich trug, würde er nun kreisrunde Tümpel finden, in denen man Fische wie auf den Reisfeldern fangen konnte – mit Grund- und Regenwasser vollgelaufene Bombenkrater.
War es nicht seltsam, hatte Sang gefragt, während er auf einer Kiste neben dem Steuerruder wie zu Füßen seines Sohnes saß, daß er von einem fast fünftausend Kilometer langen Strom, dessen Name
Mekong
ja
Mutter aller Gewässe
r bedeute, zurückkehren würde an einen Teich, einen Tümpel?
Während der vielen Stunden unserer Stromfahrt, vor allem aber an den beiden vergangenen Abenden, die wir unter Moskitonetzen in Pfahlbauten am Rand weitläufiger Schotterbänke verbrachten, hatte uns der Bootsmann von seinem Fluchtweg ans Wasser erzählt. Denn wohin sonst als ans Wasser hätte einer fliehen sollen, wenn plötzlich alles, alles in Flammen stand? Sangs Vater, seine Mutter, drei Schwestern und ein Bruder waren auf dem elterlichen Hof im Napalmfeuer eines Bombenangriffs verbrannt. Er und ein zweiter Bruder, Sonephet, waren verschont geblieben, weil sie damals gerade ein Wasserbüffelgespann über ein abgeerntetes Reisfeld führten.
Bomben. Phosphorbomben, Splitterbomben, Brandbomben, Sprengbomben, Streubomben … Die Luftangriffe waren seit Jahrzehnten vorüber, aber die Bomben immer noch allgegenwärtig: Entschärft dienten sie nun in den Dörfern des Hochlandes als Säulen für Hauseingänge und Vordächer, als Zäune, Blumenwannen und Reisbehälter oder lagen als Rohmaterial gestapelt vor den Dorfschmieden. Und die Stahlkugeln von Streubomben waren zum Spielzeug für Kinder geworden; glänzende Bälle.
Ein zerlesenenes, zum Schutz vor dem Wasser in durchsichtige Folie gebundenes Heft, das Sang allen seinen Passagieren zur Lektüre anbot, zeigte Bomben aller Typen und Größen, die auf sein Land gefallen waren, und auch alle Minentypen, die wie eine Drachensaat in der laotischen Erde lagen. Darunter stand in Englisch und Französisch, den Sprachen unvergessener Feinde, daß – vom Rest der Welt jahrelang unbeachtet und von einer Regierung in Washington ebenso lange geleugnet – zur Zeit des
Vietnamkriegs
, der ebensogut den Namen
Laoskrieg
verdient hätte, mehr Bomben auf das neutrale Laos gefallen seien als während des Zweiten Weltkriegs auf Deutschland und Japan: zwei Millionen Tonnen Bomben. Auf kein anderes Land der Welt sei in der bisherigen Geschichte der Kriege ein solcher Bombenhagel niedergegangen. Und das vor allem, weil ein als
Ho-Chi-Minh-Pfad
berüchtigter Nachschubweg der Vietcong zerstört werden sollte, ein Gewirr von Waldwegen, die aus dem benachbarten Vietnam unseligerweise durch den laotischen Dschungel führten.
Selbst jetzt, dreißig Jahre nach dem Krieg, hatte Sang gesagt, würden Jahr für Jahr Hunderte Menschen auf Reisfeldern, in Baugruben, bei der Arbeit im Garten oder einfach auf dem Weg zum Markt von Minen und Bomben getötet oder verstümmelt. Aber alle diese Krüppel, alle diese Toten, die
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