Atlas eines ängstlichen Mannes
dürrer Zweige unter unseren Füßen, das knisternde Gras. Ohne den Kopf noch einmal über das Blattwerk zu erheben, kroch die Königin lautlos ins Verschwinden.
Die Übergabe
Ich sah die schmale Hand des Bootsmannes Sang. Sie ruhte für einen Atemzug, vielleicht einen Augenblick länger, auf der Schulter seines Sohnes Lae, der neben ihm am Steuerruder eines Langbootes stand. Das Boot, das Lae seit drei Tagen stromabwärts führte, war nur mit vier Passagieren besetzt; ich war einer von ihnen. Wir waren bei Huay Xai, einer Grenzstadt im Dreieck zwischen Burma, Thailand und Laos, an Bord gegangen und sollten am Abend die alte laotische Königsresidenz Luang Prabang erreichen. Die Regenzeit war vorüber, aber der Wasserstand des Mekong immer noch hoch genug, daß ein Langboot von der bescheidenen Größe des unseren in Stromschnellen, vor allem aber in den Strudeln, die sich manchmal wie rotierende Brunnenschächte vor dem Bug auftaten, leicht kentern konnte.
Lae steuerte das Boot auf dem Stromabschnitt zwischen Huay Xai und Luang Prabang allein, aber wenn Gefahren oder Hindernisse die Fahrt bedrohten – felsige Untiefen, Stromschnellen, Strudel oder vom Monsun entwurzelte Bäume, deren Äste sich manchmal wie die Arme ertrinkender Riesen aus der Flut erhoben –, legte sein Vater ihm stets die Hand auf die Schulter, sagte dazu aber kein Wort, gab keinen Rat.
In den drei Tagen, an denen die laotischen Ufer des Mekong an uns vorübergeglitten waren – von Regenwald bedeckte Steilhänge, dazwischen blühende Rosenteakholzwälder, Pfahlbaudörfer und immer wieder schwarze, manchmal noch rauchende Brandrodungsflächen, auf denen Arbeitselefanten verkohlte Stämme an Ketten ans Wasser schleiften –, hatte Lae keinen Fehler gemacht. Er war auf unzähligen Fahrten nach Luang Prabang bisher stets nur der Matrose seines Vaters gewesen und kannte zwar noch nicht alle, aber doch viele Namen jener Gefahren, die sich mit den um acht und zehn Meter steigenden und wieder fallenden Wasserständen des Mekong im Wechsel der Jahreszeiten änderten:
Jeder dicht unter der Wasseroberfläche verborgene Felsen, jeder Strudel, der in der Monsunzeit eine Gefahr, in der Trockenzeit bloß eine glucksende Erinnerung war, trug einen alten, oft jahrhundertealten Namen. Bootsmann Sang hatte diese Namen aber stets erst dann ausgesprochen, wenn Lae das Richtige getan hatte und die Bedrohung bereits hinter uns lag. Ein Bootsmann mußte nicht nur bekannte Gefahren umschiffen, sondern sein Bild des Stromes beständig erneuern, indem er sich jede Verformung der Ufer, Schotter- und Sandbänke und auch alle Veränderungen im Relief der Wasseroberfläche einprägte, deren spiegelnde Glätte oder Wellenmuster ihm die Tiefe, Strömungsgeschwindigkeit und Tauglichkeit seines Fahrwassers anzeigen konnten.
Wenn wir am Abend dieses Tages über eine breite Steintreppe von den Anlegestegen am Mekongufer zu den Tempeln und Palästen von Luang Prabang emporsteigen würden, so hatte es Sang mit seinem Sohn vereinbart, sollte Lae das Boot wenden und sich, ohne an Land zu gehen, auf die Rückfahrt nach Huay Xai machen. Und von dieser Stunde an würde Lae der neue und alleinige Bootsmann sein. Als hätte er sich für die nahe Stunde der Übergabe seines Bootes festlich gekleidet, trug Sang, seitdem wir von unserer letzten Station abgelegt hatten, eines jener billigen Rohseidenhemden, wie sie in den Dörfern am Ufer verkauft wurden.
Sang hatte den Mekong stromauf, stromab mehr als dreißig Jahre lang befahren, bis hinab zu den
Viertausend Inseln
an der Grenze zu Kambodscha. Sang konnte Skizzen und Karten des Fahrwassers und der je nach Jahreszeit unterspülten oder überfluteten Ufer aus dem Gedächtnis zeichnen, kannte jedes Dorf, jeden Weiler an seinem Stromabschnitt – und war dabei doch immer ein Mann der Berge geblieben. Morgen früh würde er von Luang Prabang endlich ins Hochland, nach Phonsavanh in der Provinz Xieng Khouang, zurückkehren, zum erstenmal seit mehr als dreißig Jahren zurückkehren in ein verwüstetes, nahezu baumloses Land, das von seinen Bewohnern
Thong Hay Hin
, von den vielen Passagieren, die er in seinem Langboot befördert hatte, aber
Ebene der Tonkrüge
genannt wurde.
Mannshohe, ja bis zu drei Meter hohe, tonnenschwere Gefäße aus Sandstein und Granit, Reste einer rätselhaften, verschwundenen Kultur, lagen dort oben zu Tausenden über eine hügelige Savanne verstreut. Mythische Riesen, sagten die einen, hätten einst aus
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