Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
Vom Netzwerk:
für einen Augenblick in voller Größe über den Wellen und vor den weißen Wolkenfäusten des Tropenhimmels schwebten, bevor sie in einer Explosion schneeiger Gischt und zerreißender Wasservorhänge wieder ins Meer zurückstürzten. Der Meeresbiologe, der unser Schlauchboot steuerte, bevorzugte unter den vielen Deutungen dieser Sprünge als Macht- oder Kampfrituale die allereinfachste: Sie
spielen
. Aber wehe dem Schwimmer, der einen solchen Spieler aus der Tiefe unter sich hochstürmen sah.
    Buckelwale, hatte der Biologe gesagt, bevor er den Motor abstellte und uns anwies, lautlos ins Wasser zu gleiten und die letzten hundert Meter bis zur vermuteten Schlafstelle der Walkuh und ihres Kalbes zu schwimmen, Buckelwale seien friedlich, ja, sie hätten unseren harpunierenden Artgenossen offensichtlich selbst den Versuch verziehen, sie über die Jahrhunderte mit einer Armada aus Fangschiffen auszurotten.
    Ich hatte den fünf oder sechs Meter langen Säugling, der sich jetzt aus der Umarmung der Mutter löste und mit flatternden Brustflossen der Meeresoberfläche entgegenstieg, bereits zweimal auftauchen, blasen und wieder abtauchen sehen, als die Mutter, die bis zu einer halben Stunde, ohne einen Atemzug zu tun, in der Tiefe ruhen konnte, aus ihrem Schlaf oder ihren Tagträumen erwachte und nun ihrem Kalb in einem steilen Aufstieg nachschwebte.
    Obwohl ich keinen Zweifel an der Sanftheit und Friedlichkeit der Buckelwale hegte, überfiel mich plötzlich die Starre eines Beutetiers, als dieser schwarze, von Seepocken und an Stahlnieten erinnernden Warzen übersäte Koloß mit einem Maul, so groß, daß ich darin wie in einem Strandkorb Platz gefunden hätte, auf mich zukam. Auf mich? Die Walkuh schwamm auf die von der Linse des Ozeans verzerrten Bilder von Kumulustürmen zu, auf den Tropenhimmel, schwamm plötzlich aber nicht mehr ihrem in sicherer Entfernung von mir blasenden Kalb entgegen, sondern dorthin, wo ich war. Ich vergaß einige Herzschläge lang, durch den Schnorchel zu atmen. Dann hob ich prustend den Kopf aus der Flut und sah das Schlauchboot hundert Meter, vielleicht weiter, entfernt, sah auch fünf schnorchelnde Schwimmer, meine Gefährten, sah sie aber nicht, wie geboten, dicht nebeneinander, sondern von den Wellen versprengt und hinter deren Kämmen immer wieder verschwindend – weitab. Seltsam, wie besänftigend, wie ruhig gegen so viel Dunkel, so viel Bewegung unter mir dieser hohe Himmel sein konnte, die Wolkentürme, das unerreichbare Blau. Ich trieb in den Wellen.
    Die Riesin kam langsam, war das vorsichtig?, näher, so nahe schließlich, daß ich die Iris ihrer von dunklen Hautfalten umpanzerten, an ihrem mächtigen Schädel winzig erscheinenden Augen sah. Mit diesen Augen, hatte es an Bord geheißen, könne ein Wal zwei verschiedene Bilder gleichzeitig erfassen, gleichzeitig zwei verschiedene Welten.
    Die Riesin sah mich an, nein: streifte mich mit ihrem Blick und änderte dann ihren Kurs um einen Hauch, gerade so viel, daß wir einander nicht berührten. Aber obwohl sie mir mit dieser Andeutung einer Seitwärtsbewegung auswich und damit mein Dasein immerhin wahrnahm und anerkannte, glaubte ich in ihrem Blick eine so abgrundtiefe Gleichgültigkeit zu sehen – vergleichbar der eines Berges gegenüber dem, der ihn besteigt, der des Himmels gegenüber dem, der ihn durchfliegt –, daß mich ein Gefühl überkam, als müßte ich mich unter diesen Augen ohne den geringsten Rest auflösen, müßte unter diesen Augen verschwinden, so, als hätte ich nie gelebt. Vielleicht war diese Riesin in Schwarz tatsächlich aus ihrer Tiefe zu einem Atlantikschwimmer emporgeschwebt, um ihm eine Ahnung davon zu vermitteln, wie reich, wie vielfältig, unverändert und selbstverständlich die Welt ohne ihn war.
    Und dann durchbrach sie den Meeresspiegel, blies ihren Atem gegen die Wolken, in meine Welt, eine glitzernde Fontäne, und wandte sich, noch bevor die kondensierte Luft aus ihren zentnerschweren Lungen als Wasserschleier verwehte, wieder der Tiefe zu, folgte dem Säugling, der bereits auf dem Weg zum Grund war.
    Und ich sah einen ungeheuren, von Abwehrkämpfen, von Korallenriffen, Liebesspielen oder den Schraubenblättern von Schiffen gezeichneten, narbigen Körper Meter um Meter um Meter um Meter an mir vorübergleiten – und sinken.

Die Königin der Wildnis
    Ich sah ein totes Kalb auf einer von Urwald umschlossenen Weide im brasilianischen Bundesstaat São Paulo. Das Tier mußte schon vor Tagen

Weitere Kostenlose Bücher