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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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verendet sein; der Bauch war von Gärgasen gebläht, an Stelle der Augen klafften blutige, von Schmeißfliegen umschwirrte Löcher. Lenden und Hals waren von Schnabelhieben oder Reißzähnen zerfetzt. Einige Urubus, schwarz gefiederte Geier, eben noch damit beschäftigt, das Aas zu zerteilen, hatten vor zwei Reitern die Flucht ergriffen und hockten nun wartend im Geäst eines entlaubten Flammenbaumes.
    Fazenda Floresta
: Der Name dieses hügeligen Weidelandes, auf dem die von Büschel- und Löwenäffchen, Kolibris und Papageien besiedelten Reste eines bereits vor Generationen gerodeten Urwalds als schwarzgrüne Inseln dahintrieben, erinnerte noch an die Wildnis, die sich hier einmal nach allen Himmelsrichtungen ausgebreitet hatte. Floresta bedeutete in der Landessprache
Wald
, undurchdringlicher Wald, Urwald.
    Der Fazendero, der Grundherr, ein im westfälischen Münster geborener Deutscher, den eine große Liebe vor Jahrzehnten dazu gebracht hatte, in Brasilien seßhaft und dort Bauer und Rinderzüchter zu werden, hatte mir an diesem heißen Februarmorgen vorgeschlagen, ihn auf seinem Ritt über weit verstreute Weiden zu begleiten; einer der Viehhüter habe ihm einen von einer Korallenschlange getöteten Jungstier gemeldet.
    Unsere Pferde näherten sich dem Kadaver mit einem solchen Widerwillen, daß wir schließlich abstiegen und sie an den Ästen eines leuchtend violett blühenden Quaresmeirabaumes festbanden, dann aber selber vor einem Hagel von Schmeißfliegen zurückweichen mußten. Der Kleine da, sagte der Fazendero, hätte ein guter Zuchtstier werden können; er sei bereits das zweite vom Biß einer Korallenschlange getötete Tier in diesem Jahr. Manchmal habe er das Gefühl, die Wildnis oder ihre Dämonen forderten Tier- und sogar Menschenopfer als Sühne dafür, daß Vogelchöre und Affenhorden in den Busch zurückgedrängt, Wald gerodet und Haustiere, Schweine, Rinderherden auf die eroberten Lichtungen getrieben worden seien. Dabei genüge hier schon ein kurzes Nachlassen der Wachsamkeit, und unbestelltes Land fiel wieder an die Wildnis zurück und versanken Weiden, Wege, Ställe und Häuser in stetig anrollenden, wuchernden, blühenden Wogen immergrünen Dickichts.
    Als er dieses Land hier zum erstenmal gesehen habe, sagte der Fazendero, sei es vom Busch kaum noch zu unterscheiden gewesen – das Herrenhaus eine Ruine, aus deren Fenstern Bäume ihre Äste streckten, die Unterstände für das Vieh verrottet, Tore und Gatter von armdicken Lianen und Würgefeigen zugenäht, die Brunnen verschüttet – wertloses Land. Entsprechend niedrig dann auch der Preis.
    Also hatte er damals diese Abgeschiedenheit gekauft und der Wildnis in erschöpfender und begeisterter Arbeit ihre Beute wieder abgejagt, hatte gemeinsam mit seinen Landarbeitern die rote Erdstraße, die nun hügelauf, hügelab bis nach Buri, der nächsten Stadt, verlief, über Kilometer und Kilometer und immer den Barrieren des Geländes folgend oder ihnen ausweichend, als Schneise durch den Wald geschlagen, hatte die überwucherten Lichtungen wieder in Weiden zurückverwandelt und auf einer Anhöhe ein neues, lichtdurchflutetes Haus aus eisenhartem Arueraholz und Glas gebaut, Häuser für die Viehhüter, die Landarbeiter und ihre Familien, Unterstände gegen die brennende Sonne und Ställe, später eine Schule, einen Kindergarten, eine Kirche, einen Spielplatz … ein von Urwald umgebenes, vom Urwald beschütztes Dorf.
    Gab es denn etwas Lohnenderes, fragte der Fazendero, während wir die schweißnassen Pferde wieder bestiegen und die Lichtung und ihren Verwesungsgestank hinter uns ließen, gab es denn etwas Beglückenderes, als der Wildnis, der äußeren wie jener, die man in sich selber trug, etwas Neues, vielleicht sogar etwas wie eine Heimat abzugewinnen – nein, nicht im Kampf oder allein mit Motorsägen, Beilen, Planierraupen und Dynamit, sondern in einer Art Tauschhandel, einem Gegengeschäft, das zum Beispiel den Geiern das Aas von verendetem Weidevieh überließ, das bewaldete Steilhänge, Affenland!, mit Entwässerungskanälen vor dem Abrutschen unter Wolkenbrüchen bewahrte, den Kolibris auf den Veranden Glasflöten voll Honigwasser – und selbst den Schlangen zwischen den Viehweiden für Menschen und ihre Herden unzugängliche Lebensräume anbot?
    Ich hatte den Fazendero in einem Restaurant im dreihundert Kilometer entfernten São Paulo kennengelernt, in dem er nach einer Zusammenkunft brasilianischer Züchter von Simmental-Rindern

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