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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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schimmernde Glasflöten wie Blumenvasen. Erst als meine Augen sich an das im Vergleich zum blendenden Himmel sanfte Stalldunkel gewöhnten, erkannte ich, daß in jeder dieser Flöten eine Korallenschlange im Spiritusbad schwebte. Mit ihrer immer noch leuchtend roten, von schwarzweißen Ringen in regelmäßige Segmente unterteilten Schuppenhaut glichen diese Schlangen eher prachtvollen Halsbändern als einer Gefahr.
    Schön und oft tödlich, sagte der Fazendero. Einige seiner Viehhüter behaupteten, daß die Schlangengefahr kleiner geworden sei, seit er ihren Rat befolgte und mit den von ihnen erschlagenen Korallenschlangen, besiegten Dämonen, die Ställe schmückte.
    Der Nachmittag wurde gewittrig, und wir machten uns in einem tonnenschweren Geländewagen früher als geplant auf den Rückweg nach São Paulo – für den kommenden Tag waren schwere Regenfälle vorhergesagt. Die rote Erdstraße wurde dann selbst mit einem vierradgetriebenen Pick-up unpassierbar oder war nur noch im Kriechtempo mit jenen Schneeketten zu befahren, die der Fazendero im vergangenen Jahr aus dem eisigen Europa importiert hatte.
    Der Himmel im Südwesten begann sich bereits violett zu verfärben, als wir, weit von der Fazenda entfernt und immer noch weit vor jeder Siedlung, etwas Dunkles auf der Straße liegen sahen, das ich aus der Entfernung für einen Balken oder einen prallen Wasserschlauch vom Umfang einer Regenrinne hielt. Der Fazendero bremste so heftig, daß die für alle Fälle mitgeführten Schneeketten auf der Ladefläche des Pick-up gegen das Fahrerhaus klirrten. Eine Anakonda, sagte er und öffnete bereits die Wagentür, um auszusteigen.
    Die Riesenschlange, die langsam, sehr langsam und unbeirrt von unserer Gegenwart über die Straße kroch, mußte sechs, sieben Meter oder länger sein, ihr Schwanz war noch im Dickicht an der linken Straßenseite verborgen, während ihr Kopf für einen Augenblick zwischen dürren Grasbüscheln an der rechten Straßenseite auftauchte und gleich wieder verschwand. Wir sahen das wellenförmige Ornament auf ihrem Rücken langsam an uns vorüberfließen, als auf der Hügelkuppe vor uns ein Lastwagen auftauchte, das erste Fahrzeug seit unserem Aufbruch, und auf uns zukam wie auf der Flucht vor einer hinter ihr aufrauchenden, die Straße und ihre Ränder verschlingenden roten Staubfahne. Auf der Ladefläche standen Landarbeiter, die sich an den Bordwänden festhielten und den erhobenen Arm des Fazenderos, der warnen und die Anakonda schützen wollte, vielleicht für einen Gruß hielten. Sie winkten zurück, lachten, kamen rasch näher.
    Aber der Fahrer des Lastwagens brauchte keine Warnung. Er hatte die Schlange längst gesehen und verringerte die Geschwindigkeit nicht, sondern fuhr wie von Jagdlust oder bloßer Wut, vielleicht Angst getrieben auf sie zu – und über sie hinweg. Und für einen Augenblick sah es aus, als setzte der Laster mit seinen hölzernen Bordwänden und lehmverkrusteten Zwillingsrädern wie ein monströses Untier durch einen Dressurreifen, denn das über sie hinwegdonnernde Gewicht ließ die Anakonda zu beiden Seiten des Gefährts, ihren Kopf, ihren Schwanz hochpeitschen und so einen Bogen bilden, der, kaum ausgespannt, in den roten Staub zurückfiel, während der Wagen, ohne stehengeblieben, ja, ohne auch nur langsamer geworden zu sein, verschwand und uns, die überfahrene Anakonda, die Erdstraße, den Urwald, in einem roten Nebel zurückließ, der sich nur zögernd lichtete.
    Die Anakonda lebte noch und kroch weiter, langsamer jetzt, ohne ihre alte, fließende Anmut jetzt und manchmal wie in einem Krampf, aber weiter. Auf dem Ornament ihrer Haut war keine offene Wunde zu sehen, ihre Wirbel mußten aber gebrochen sein. Die Spuren der Zwillingsreifen auf ihrem von rotem Staub bedeckten Körper erinnerten an die dunklen Ringe auf dem Rot der Korallenschlangen in den Glasflöten der Fazenda Floresta.
    Rainha da Selva
, Königin der Wildnis, sagte der Fazendero, Königin der Wildnis habe einer seiner Viehhüter jene Anakonda genannt, die an einem Weihnachtsabend auf einer Stallrampe erschienen und dann vor einer Schar begeisterter Kinder sozusagen in die Heilige Nacht geflüchtet war. Aber dieser Königin hier, sagte der Fazendero, bleibe zur Herrschaft wohl nur noch das Totenreich. Wen sollte sie mit ihren gebrochenen Wirbeln noch jagen? Wen verschlingen?
    Als wir der Anakonda folgten, soweit das Dickicht es zuließ, waren nur unsere eigenen Schritte zu hören; das Knacken

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