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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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dann mit dem Driver ausholte und dabei ein Ziel irgendwo tief im Süden im Auge behielt. Mit welcher Wucht er dann schlug und den Driver nach dem Abschlag noch weiterführte, sich ihm nachdrehte, als stünde er allein auf einem Grasteppich des einsamsten Golfplatzes der Welt.
    Auf die Reling des Eisbrechers gestützt, sah ich den Abflug des Balles nicht, hörte aber das scharfe Schlaggeräusch und begann, als sich die nächsten Bälle hoch in den arktischen Himmel erhoben und vor diesem tiefblauen Grund endlich sichtbar wurden, mitzuzählen und mir die Greens dazu vorzustellen: Ein sibirisches Straflager. Eine Zwangsarbeiterin unbekannten Aufenthalts in Deutschland. Eine verlassene Wohnung in Riga. Ein Fallschirmabsprung über einem brennenden Kampfgebiet. Den herbstlichen Lake Michigan und sein Spiegelbild in den Fenstern eines neuen Hauses …
    Achtzehn. Der Golfer hatte den letzten Abschlag tief in den Süden getan und den Driver dann sinken lassen. Die Bälle würden im Schnee verschwinden, einschmelzen in die polare Eisdecke und endlich, wenn der im Rhythmus der Jahreszeiten an- und abschwellende Druck der Eispressungen meterdicke Schollen aufwarf, bersten ließ und wieder neu zusammenfügte, ins Wasser gleiten und hinabsinken an den Meeresgrund, mehr als viertausend Meter hinab.
    Aber nicht nur hier oben, auch dort unten, in der Finsternis der Tiefsee, stand bereits eine Flagge – die russische, im Lampenschein aufgepflanzt von der Besatzung eines U-Bootes zum Zeichen, daß alles, was aus diesem Dunkel geschürft, gehoben, gewonnen werden konnte, russisches Eigentum war.
    Im Umkreis dieser Flagge würden seine Golfbälle nach und nach herabschneien wie auf ein nächtliches Green als die Hinterlassenschaft eines Mannes, der seinen Vater in Sibirien und die Mutter in Deutschland verloren hatte, eines Golfspielers, der jetzt plötzlich und ohne einen weiteren Ball aufgelegt zu haben, seinen Driver noch einmal hob und einen so wuchtigen Schlag führte, daß ich selbst in der Höhe der Reling das Fauchen zu hören glaubte, mit dem er die Leere durchschnitt.

Heimkehr
    Ich sah einen Strom von Aberhunderten Silberlachsen, die sich an einem strahlenden Oktobertag im kanadischen Ontario durch das kaum knöcheltiefe Wasser eines Flusses gegen die Strömung vorankämpften. Der Fluß führte nach einem dürren Sommer nur wenig Wasser. Immer wieder sprangen die Lachse, viele von ihnen bereits zu Tode erschöpft, über Hindernisse hinweg, Schwemmholz, umschäumte Felsen, kamen dabei manchmal auf nur noch fingerbreit überspülten Schotterinseln zu liegen, wälzten und wanden sich in tieferes Wasser zurück, trieben dann scheinbar leblos ein Stück flußabwärts, bevor sie den Kampf erneut aufnahmen und sich an Ästen und Geröll zahllose Wunden rissen. Manchen hing das Fleisch bereits in Fetzen vom Körper.
    An ihnen vorüber und nicht weniger dicht trieben ihre toten und sterbenden Artgenossen, von Verletzungen entstellt oder bereits verwesend, flußabwärts, auch sie zu Hunderten, Aberhunderten. Die Ströme der Lebenden und der Toten verkeilten sich ineinander, und wenn ein Lebender plötzlich im Gedränge der Toten auftauchte und über sie hinwegsprang, schien es, als sei hier einem Wesen tatsächlich die Rückkehr aus dem Totenreich geglückt.
    Das Ziel der Silberlachse waren nach einem wochenlangen, gegen die Strömung verlaufenden Weg die nur noch wenige Stunden entfernten, flußaufwärts liegenden Laichplätze, die Stätten auch ihrer eigenen Geburt, die in diesem sonnigen Herbst aber keiner von ihnen erreichen sollte. Denn nicht allein, daß der niedrige Wasserstand den Fluß selber zum nahezu unüberwindlichen Hindernis werden ließ – unerreichbar wurde das Ziel durch einen etwa sechs Meter hohen Wasserfall, in dessen Gischtvorhängen in regenreicheren Zeiten Lachse mit rasenden Flossenschlägen hochschwimmen, hoch
fliegen
konnten. Jetzt aber rieselte der Fall nur dünn in ein Felsenbecken; keiner seiner Schleier bot an diesem Tag genug Wasser für Flossenschläge.
    So sprangen die Erschöpften, wenn sie dieses Becken endlich erreichten, wieder und wieder vergeblich in die Wasserschleier und fielen daraus wieder und wieder zurück, bis sie sterbend auf seinen Abfluß zu- und dann endlich nicht mehr gegen, sondern wieder mit der Strömung hinabtrieben – denen entgegen, die dann mit letzter Kraft über sie hinwegsprangen.
    Lachse wie diese hier, sagte ein Mann in Fischerkleidung, während er mit einem leeren

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