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Atlas eines ängstlichen Mannes

Atlas eines ängstlichen Mannes

Titel: Atlas eines ängstlichen Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Ransmayr
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unlösbar ineinander verstricken wie die Angelschnüre chaotischer Fischer.
    Stille und Windstille waren hier unten so vollkommen, daß ich das Klingen des Blutes in meinem Kopf hörte. Daß der Fährmann mich außerhalb der auf einer großen Tafel an der Anlegestelle am Seeufer plakatierten Besichtungszeiten ins Innere des Gebirges ruderte, war ein Privileg, das ich einem Farmer verdankte, der mich für zwei Nächte in einem der drei
Zimmer mit Frühstück
seines Hofes beherbergte.
    Schon bei der Einfahrt in die Höhle hatte mir der an Händen und Hals und über das ganze Gesicht mit den Ornamenten seines Stammes tätowierte Maori bedeutet, mich auf den Rücken zu legen. Ich könne so den Sternenhimmel über mir wie auf einem in sanften Brisen dahinsegelnden, fliegenden Teppich bestaunen. Aber kaum auf dem Boden des Kahns ausgestreckt und in einem Gefühl der Geborgenheit ähnlich dem in einer Wiege, spürte ich auch, wie müde ich war. Ich hatte einen langen Tag auf winterlichen Straßen, vor allem einer Paßstraße, hinter mir, auf der ich von Wanaka nach Queenstown über den
Crown Range Summit
, den höchsten, auf einer Straße überquerbaren Paß Neuseelands, gefahren und dabei fast einen Steilhang hinabgestürzt war: Nachdem es kurz vor der Paßhöhe in dichten Flocken zu schneien begonnen hatte, war mein für winterliche Verhältnisse nicht ausgerüsteter Mietwagen auf einem bereits schneeverwehten Anstieg mit durchdrehenden Rädern plötzlich rückwärts, rückwärts! und langsam gegen den Straßenrand und einen felsigen Abhang gerutscht. Der Hang war so steil, daß mein Wagen sich bis hinab zu einem Bergbach, der tief unten schwarz und lautlos talauswärts lief, wieder und wieder überschlagen mußte.
    Natürlich stand in einem Vertrag, der zusammengefaltet im Handschuhfach lag, daß ich Paßstraßen zu dieser Jahreszeit unter allen Umständen zu meiden hätte und jede Versicherungsleistung verlieren würde, wenn ich gegen diese Bestimmung verstieß. Aber auf einer Route, die nicht über den Crown Range Summit, sondern um das Gebirge herumführte, hätte ich mein Ziel, den Lake Te Anau und seine Höhlen, wohl nicht mehr bei Tageslicht erreicht. Dazu war der Tag zwar stürmisch, aber noch nahezu wolkenlos gewesen, als ich mich für die Fahrt durch das Gebirge entschieden hatte.
    Ich machte mich bereit, aus dem Wagen zu springen, um mein, wie ich empfand, dramatisch gefährdetes Leben um den Preis eines unbesetzt in einen Bergbach krachenden Mietwagens von meinem Schicksal zurückzukaufen, als der Wagen dicht vor dem Abgrund zum Stillstand kam:
    Die Erinnerung an diese Augenblicke einer hilflosen Drift ließen mir meine Lage auf den Bodenplanken des Kahns so umsorgt und glückhaft erscheinen, daß ich in einem schläfrigen Gefühl des Behütetseins beinahe hinübergeglitten wäre in einen Traum, der mit Sternen zu tun hatte.
    Vier Bergwanderer, die mich auf ihrer Rückreise von einer langen Tour in meiner Schwebe zwischen Totalschaden und Lebensgefahr am Straßenrand entdeckt, dann in ihrem mit Schneeketten gerüsteten Jeep über die Paßhöhe geschleppt und noch bis unter die Schneefallgrenze begleitet hatten, erschienen mir am Rand dieses Traumes als Schutzgeister, wie sie sich nur im Land der Maori um die Ängstlichen und Gefährdeten annahmen.
    Vielleicht war ja auch mein tätowierter Fährmann ein solcher Geist. Er kannte das Höhlenlabyrinth so gut, daß er den Kahn ohne Lampe durch die Finsternis führte und sein Ruder wie einen Blindenstock. Wir glitten, schaukelten unter glimmenden Galaxien dahin. Manche dieser Sterne, sagte er, würden heller leuchten als andere, das seien die hungrigen Larven, ihr Licht mußte ja wohl das betörendste sein, andere
glow worms
wiederum, die gerade Beute gemacht und gefressen hatten, schimmerten blasser, und wieder andere, die dabei waren, sich zu verpuppen, und signalisieren wollten, daß sie bald zur Fortpflanzung bereit waren, leuchteten auf, erloschen, leuchteten erneut,
blinkten.
    Es sei hier in der Tiefe also nicht anders als am Himmel draußen in der Nacht, über dem Lake Te Anau und den schneebedeckten Gipfeln, auch dort draußen gab es Sterne, die ihre Leuchtkraft periodisch veränderten, gab es lichtstarke und lichtschwache Sonnen, Dunkelwolken, schwarze Löcher. Und tatsächlich behaupteten ja Insektenforscher, sagte der Fährmann, daß die phosphoreszierenden Larven dieser Pilzmücke nicht mehr und nicht weniger wollten, als den klaren Sternenhimmel

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