Atlas eines ängstlichen Mannes
Ackerbau und mit ihm Zivilisation, Kunst und alle Spielformen des Lebens bloße Träume geblieben wären im Land der Khmer. Aber am Ende der Regenzeit, tauchte das Land wieder aus der Flut, als würde eine zyklisch wiederkehrende, tektonische Kraft Schiffsrouten in Straßen und Wege zurückverwandeln und Felder und Weiden aus einem von morastigen Ufern gerahmten Wolkenspiegel dem Himmel entgegenstemmen.
Nirgendwo in Kambodscha zeigte sich das Drama der Flut eindrücklicher als vor dem Königspalast in Phnom Penh. Denn vor diesem Palast, unter den Augen eines jahrhundertelang als Gott verehrten Herrschers, teilt sich der Mekong für einen Stromkilometer ein mächtiges Bett mit dem hier einmündenden Fluß
Tonle Sap
. Unter den Wolkengebirgen der Regenzeit aber staut der Hochwasserschwall des Mekong den Tonle Sap, läßt den sanfteren, schwächeren Fluß der Khmer nicht länger ins gemeinsame Bett, sondern drängt ihn zurück, zwingt ihn zur Umkehr und in ein riesiges Flutbecken, einen See. Dieser See, der den Namen des Flusses trägt, schwillt in der Regenzeit bis zum Siebenfachen seiner ursprünglichen Größe an und liegt so wie ein pulsierendes Wasserherz inmitten Kambodschas.
Im Land der Khmer wird der Tonle Sap auch
Fluß ohne Salz
genannt, aber Fischer wie Ho Doeun und Fährleute haben für den Salzlosen auch einen Kosenamen –
Süßer Fluß
: Er rauscht aus den monsunverschleierten Urwäldern seines Quellgebiets über Dämme und Wasserwehre, strömt allmählich sanfter dahin, sinkt schließlich, nur noch erschöpft murmelnd, seiner Mündung in Phnom Penh entgegen und hält vor dem Palast der Khmerkönige, kaum einen Tageslauf von der Brandung des Südchinesischen Meeres entfernt, inne, als hätte ihm der nahe Ozean angst gemacht: hält inne, glättet sich, steht still – und beginnt dann unter dem Druck des Mekong langsam und unaufhaltsam wieder zurückzufließen, seinen Quellen entgegen, monatelang, bis am Ende der Regenzeit die Macht des Mekong nachläßt und er seinen Lauf abermals umkehren und sich von seinen Quellen ab- und doch wieder dem Meer zuwenden darf.
Und während dann Pegelstände fallen und die Fluten aus dem Landesinneren so rasch abfließen, daß sich, wie Ho erzählt hatte, Fischschwärme in Büschen und Baumkronen wie in Reusen fangen und von den Bewohnern schwimmender Dörfer aus den Zweigen gepflückt werden, vereinigt sich der Fluß der Khmer wieder mit dem Mekong im alten Bett, das er aber, wie verwandelt durch den Zusammenfluß, schon nach einem Stromkilometer wieder verläßt, um sich unter einem neuen Namen seinen eigenen Weg in die Mangrovenwälder der kambodschanischen Küste zu suchen.
Chaktomuk
, Vier Gesichter, nennen die Khmer das narbige, durch die Kreuzung unbeherrschbarer Ströme entstandene
X
, das sich nicht nur in den Schlammgrund der Imperien angkorianischer Gottkönige eingegraben hat, sondern wie ein Wasserzeichen durch die Schreckensherrschaft des
Saloth Sar
schien, eines Bauernsohnes aus der Provinz Kampong Thom, der als
Pol Pot
Kambodscha in ein Schlachthaus verwandelt hatte. Die Zahl der Opfer seiner
Roten Khmer
ließ sich nach dem Versiegen der Blutströme nur noch schätzen: fast zwei Millionen Menschen; mehr als zwei Millionen Menschen.
Es ist ein von Strudeln und Kehrwasserwirbeln zerfurchtes Kreuz, in dem sich der Tonle Sap, der einzige Strom der Welt, der seinen Lauf im Rhythmus der Jahreszeiten umkehrt, nahezu lautlos verliert.
Ein Fluß, der zu seinen Quellen zurückzukehren scheint, am Ende aber doch und wie zur Vernunft gekommen, dem Meer und seiner Auflösung entgegenzieht, hatte in unseren Gesprächen auf dem Tonle-Sap-See oft auch an andere, den Gesetzen der Physik und Logik scheinbar widersprechende Rückwege erinnert – an einen in die Wolken zurückrauschenden Gewitterregen zum Beispiel, an Wege zurück an den Ursprung der Zeit, Wege in die Kindheit.
Pol Pot und seine Roten Khmer, hatte Ho Doeun gesagt, hätten doch auch von einer Umkehr, einem Weg zurück in die Vergangenheit geträumt, geträumt von der Größe der alten Khmer-Reiche und dem Glanz des alten Angkor, das, im zwölften Jahrhundert von einer Million Menschen bewohnt, einmal die größte Stadt der Welt gewesen war. Und wie die alten Khmer-Reiche aus den Reisfeldern, dem Ackerbau, erwachsen waren, so sollte auch die Herrschaft der Roten Khmer aus der bäuerlichen Arbeit erwachsen:
Die Bewohner der Städte waren unter Pol Pot zu Hunderttausenden aufs Land, in die Wälder und
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