Atlas eines ängstlichen Mannes
täuschend nachzuahmen, um ihre Beute mit der Illusion in Sicherheit zu wiegen, sie schwirrte, flatterte, segelte auf ihrem Flug gegen die seidenen Fangschnüre in einer friedlichen Sommernacht und einer grenzenlosen Freiheit dahin.
Und dann lief unser Kahn auf seltsam elastischen Grund. Der Fährmann legte das Ruder ins Boot und schaltete seine Stirnlampe ein, die dann, nicht anders als die Lichtglocke einer ganzen Stadt den Nachthimmel, auch hier alle Sternwolken überstrahlte und nahezu zum Verschwinden brachte. Er reichte mir die Hand, um mir aus dem Kahn und an das knisternde Ufer eines unterirdischen Sees zu helfen, auf einen Boden, der dick, ja meterhoch mit toten Insekten bedeckt war, schimmernden Flügeln, Fadenbeinen, Chitinhüllen.
Das monatelange, leuchtende Larvenstadium, ihr Sternendasein, sagte der Fährmann, sei der weitaus längste Abschnitt im Leben dieser Insekten. Schlüpfte aus der Puppe endlich ein geflügeltes Wesen, blieben ihm nur noch ein paar letzte Lebenstage, die allein der Fortpflanzung dienten. Denn die
lovers
, sagte der Fährmann, die Liebenden, die dann in der Finsternis aufeinander zukrochen oder zuschwirrten, waren ohne Mund, ohne Freßwerkzeuge, ohne Verdauungsorgane und konnten auch nur mühselig fliegen. So warteten sie zumeist in unmittelbarer Nähe ihrer verlassenen Seidennester auf einen Gemahl, mit dem gemeinsam sie dann nach dem Liebesakt und der Eiablage – verhungerten und vom Himmel fielen, auf den felsigen Grund und ins Wasser, das, wenn es unter den Regengüssen der Außenwelt stieg und wieder sank, an manchen Stränden der Höhle diese knisternden Matten aus Überresten aufschichtete, Mumien.
Auf diesen Matten, sagte der Fährmann, würden wir nun noch ein Stück weiter, tiefer ins Innere des Gebirges gehen, in die Nacht, bis an den Rand des Firmaments. Und löschte seine Lampe.
Keine Angst, hörte ich sein nachleuchtendes Bild, einen Unsichtbaren, der mich an der Hand nahm, sagen, keine Angst, wir würden der Milchstraße über unseren Köpfen bis an ihr Ende folgen und brauchten dabei selbst einen Sturz nicht zu fürchten. Denn wer in dieser Finsternis stolperte und fiel, käme auf weichem Grund zu liegen, auf
stardust
, Sternenstaub.
Abschlag am Nordpol
Ich sah einen Golfspieler im Inneren jenes Kreises, den Matrosen des russischen Atomeisbrechers
Yamal
mit einem Dutzend Nationalflaggen ins Packeis gepflanzt hatten. Nach der bis auf Bruchteile einer Bogensekunde genauen Satellitennavigation der
Yamal
sollte im Mittelpunkt des Flaggenkreises jener mathematische Punkt liegen, an dem alle Winde aus Süden kommen und nach Süden wehen und der Magnetkompaß stets nach Süden zeigt, an dem die Meridiane sich vereinigen, die Zentrifugalkraft der Erde aufhört und die Gestirne nicht mehr auf- und untergehen.
Auf diesen Punkt, der als
Nordpol
Prozessionen von Entdeckern und Abenteurern und ganze Flotten ins Packeis, in die Finsternis der Polarnacht und oft in den Untergang gelockt hatte, schritt der Golfspieler zu. In der einen Hand einen Sack voll Golfbälle, in der anderen einen
Driver
, den massivsten seiner Schläger, der einen Ball in große Weiten fliegen ließ, wollte er einen vor Jahrzehnten, in den ersten, entmutigenden Monaten seines Golfspiels gefaßten Vorsatz einlösen:
Eines Tages, eines Tages! werde er mit einem Eisbrecher zum Nordpol fahren und dort, entsprechend den achtzehn Löchern eines Golfplatzes, achtzehn Bälle gegen den Horizont schlagen, achtzehn Bälle vom absoluten Ende der Welt in Richtung Äquator.
Natürlich hatten seine Freunde diese nach einigen Flaschen kalifornischem Shiraz im Clubhaus vorgetragene Idee belacht – und er hatte mitgelacht. Aber wann immer danach vom Pol, von der Eisdrift, von Ölbohrungen im Polarkreis, Schlittenreisen oder Eisbrecherfahrten die Rede gewesen war, wurde er an seinen Vorsatz erinnert. Und nach und nach, spätestens aber seit sich die sowjetische wieder in eine russische Marine verwandelt hatte, die mit ihren Eisbrechern ein-, zweimal im Jahr Touristen, arktische Sommergäste, an jenen magischen Punkt beförderte, der jahrhundertelang nur über entsetzliche Eismärsche oder Schlittenfahrten erreichbar erschienen war, wurde ihm ein Abschlag am Nordpol zu einem berechenbaren Ziel. Nun träumte er nicht mehr bloß vom Pol, sondern befaßte sich mit ebenso raren wie teuren Angeboten von Sommerfahrten ins Packeis. Die
Yamal
, zum Beispiel, trug mit ihren zwei Reaktoren und einer Maschinenleistung von
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